Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs

 

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Einkäufe

Was schenke ich dem kleinen Michel
zu diesem kalten Weihnachtsfest?
Den Kullerball? Den Sabberpichel?
Ein Gummikissen, das nicht näßt?
Ein kleines Seifensiederlicht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Wähl ich den Wiederaufbaukasten?
Schenk ich ihm noch mehr Schreibpapier?
Ein Ding mit schwarzweißroten Tasten;
ein patriotisches Klavier?
Ein objektives Kriegsgericht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Schenk ich den Nachttopf ihm auf Rollen?
Schenk ich ein Moratorium?
Ein Sparschwein, kugelig geschwollen?
Ein Puppenkrematorium?
Ein neues gescheites Reichsgericht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Ach, liebe Basen, Onkels, Tanten –
Schenkt ihr ihm was. Ich find es kaum.
Ihr seid die Fixen und Gewandten,
hängt ihrs ihm untern Tannenbaum.
Doch schenkt ihm keine Reaktion!
Die hat er schon. Die hat er schon!

 

Kurt Tucholsky
Aus dem Jahre 1919

 

 

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26 Antworten auf Advent mit Tucholsky

  1. merlin sagt:

    der überfluss der welt war also 1919 schon thema.
    es wird immer schwieriger den menschen mit einem geschenk eine freude zu machen, weil sie schon so viel haben. eine herausforderung, oder dann halt abstinenz pflegen…
    dein foto spricht bände, obwohl das schaufenster kitschig-schön ist 😉
    glg. in den schneemorgen und einen frohen tag wünsche ich dir.

    • Quer sagt:

      Das stimmt, Merlin.
      Zum Glück ist aber das Freudemachen nicht unbedingt vom Materiellen abhängig.
      Auch kleine Gesten der Zuneigung, Aufmunterungen, Hilfeleistungen oder gewidmete Zeit können froh und glücklich machen.
      Auch dir einen schönen,weissen Tag!
      Und lieben Gruss.

  2. Andrea sagt:

    was hier als weihnachtsgedicht daherkommt, ist in wirklichkeit ja ein politisches gedicht.
    der „kleine michel“ ist vermutlich deutschland („der deutsche michel“ ist ja das gegenstück zur französischen marianne) – und diesem nachkriegs-deutschland nach dem 1.weltkrieg wird nun allerhand als spielzeug „verkleidetes“ gewünscht. das alles fehlt deutschland, zB ein neues reichsgericht, ein objektives kriegsgericht. anderes ist wohl auch ironisch zu verstehen: zB noch mehr schreibpapier (bürokratie?), …

    was am ende „die reaktion“ meint? denn das wird deutschland in diesem gedicht ja als ausreichend vorhanden bescheinigt. ich glaube, dass das „reaktionär“ mein. also dass sich die alten kräfte, die eh schon so viel schaden angerichtet haben, wieder durchsetzen.

    (mit mehr historischer sachkenntnis ließe sich natürlich auch mehr herausverstehen … )

    liene grüße, andrea

    • Valentina sagt:

      Sehr interessante Interpretation, Andrea!

    • C Stern sagt:

      Da schließe ich mich an, Deine weitreichenden Worte machen die Gedanken von Tucholsky greifbar, @Andrea.
      Ansonst bekenne ich, froh zu sein, dass ich all diesem Überfluss nichts beisteuere. Ich würde mich mit protzigen Geschenken nicht wohlfühlen. Den von mir beschenkten drei Kindern kaufe ich mit Bedacht Gewähltes und Brauchbares und nur solches, wo ich weiß, dass sie es ganz sicher verwenden. Und: Es sind wahre Kleinigkeiten!
      Und auch bei Dir, @Valentina, finde ich mich selbst sehr gut ein!

      Liebe Grüße auf diesem Wege aus Oberösterreich,
      C Stern

  3. Britta sagt:

    Tucholsky ist ein Meister darin, seinen Texten mehrere Ebenen zu geben. Das mag ich so an ihm. Mit Andreas Brille liest sich das Gedicht gleich nochmals anders.
    Heitere Grüsse und danke für den wunderbaren Adventskalender
    Britta

    • Quer sagt:

      Ja, ein gutes Gedicht kann man auf verschiedene Arten lesen, das finde ich immer so spannend daran.
      Dir ein herzliches Dankeschön fürs Lob, Britta, und ebenfalls frohe Grüsse.

  4. Valentina sagt:

    Das Beschenken ist ein tiefes, altes Bedürfnis.
    In einer Welt des Überflusses kann es zur Belastung werden.
    Darauf zu verzichten braucht Mut und es fehlt das warme Gefühl.
    Kreative Ideen umsetzen brauchen Zeit, die nicht da ist.
    Es bleibt ein Ringen um ein stimmiges Mass.

    Danke für die Anregung mit dem üppigen Bild, liebe Brigitte.

  5. Quer sagt:

    Ja, vieles können wir selber zu einer stimmigen und nicht überladenen oder faden Weihnachtszeit beitragen. Das braucht ein wenig Fingerspitzengefühl. :–)

    Gern geschehen, Valentina.
    Lieben Dank und Gruss zu dir.

  6. Gerhard sagt:

    Nein, Reaktion braucht er nicht, das führt nirgendwohin.
    Was er ihm schenken kann, das ist Glauben an die Zukunft.
    Denn auch Hoffnungslosigkeit führt nirgendwo hin.

    Liebe Grüsse
    Gerhard

  7. PepeB sagt:

    Sauber verpackte bissige Gesellschaftskritik, so richtig gut!
    Liebe Grüße
    Petra

  8. Quer sagt:

    Das empfinde ich genauso, Petra.
    Tucholsky beherrschte sein Handwerk exzellent.
    Einen lieben Gruss zu dir.

  9. mona lisa sagt:

    Ich komme zu spät, es ist bereits alles gesagt
    und ich habe es mit Interesse gelesen 😉
    Lieben Dank.

  10. Sonja sagt:

    Das Foto: sabberpichelvoll!
    Das Gedicht ebenso.
    Ja, wie Pepe sagt: bissige Gesellschaftskritik, heuer noch immer gültig!
    Liebe Grüße von
    Sonja

  11. Quer sagt:

    Genau! 🙂
    Sei auch lieb gegrüsst, Sonja!

  12. Anna-Lena sagt:

    Nicht nur das Gedicht macht nachdenklich, sondern auch das unterschiedliche Empfinden dazu. Ein wirklich bereichernder Beitrag – dafür DANKE!

    Liebe Grüße
    Anna-Lena

  13. Quer sagt:

    Das freut mich, Anna-Lena.
    Danke gleichfalls und liebe Abendgrüsse.

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