Archiv der Kategorie: Texte
In Wirklichkeit
Foto Brigitte Fuchs
Es ist ein sehr gewöhnlicher und weit verbreiteter Aberglaube, dass jeder Mensch ganz bestimmt ausgeprägte Eigenschaften habe, dass es also schlechtweg gute, böse, kluge, dumme, energische, apathische usw. Menschen gebe. In Wirklichkeit sind die Menschen nicht so beschaffen. Wir können von einem Menschen nur sagen, dass er häufiger gut als böse, häufiger klug als dumm, häufiger energisch als apathisch ist und umgekehrt; es wird der Wahrheit nicht entsprechen, wenn wir von dem einen Menschen sagen, er sei immer gut oder klug, und von einem andern, er sei immer böse oder dumm. Gleichwohl teilen wir die Menschen immer so ein – wie gesagt, mit Unrecht. Die Menschen sind wie die Ströme: das Wasser ist in allen gleichartig, überall ein und dasselbe, doch jeder Strom ist bald schmal und schnellfliessend, bald breit und langsamfliessend, ist abwechselnd rein, kalt, trübe oder warm.
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Leo Tolstoi (1828-1910) russischer Schriftsteller
Aus „Auferstehung. Erstes Buch“
Foto Brigitte Fuchs
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Gedicht von Wandkalendern
Foto Brigitte Fuchs: Kalender von Harenberg
In meiner Kindheit (und vielleicht nur in dem Land, in dem ich sie verlebt habe) gab es eine besondere Art von Wandkalendern, an die ich mich jedes Jahr in den Wintermonaten erinnere, wie man sich an Weihnachtsbäume und Grossmütter erinnert, an Bilderbücher und Bonbons, an alle Personen und Dinge, die einen Glanz, eine Süsse und eine Wärme hatten und die in ein gläsernes Grab gesunken scheinen, immer noch sichtbar, aber tot, Reliquien der heiligen Kindheit. Die Wandkalender bestanden, wie die heutigen auch, aus einem dicken Bündel neuer, glänzender, schwarzer und roter Tage, über die wie ein Bühnenvorhang ein buntes Blättchen gelegt war, darstellend einen Ast voll roter Kirschen oder ein Büschel Veilchen, jedenfalls immer ein blühendes Versprechen des neuen noch zugeklappten Jahres. Das Bündel der 365 Tage steckte an einem ziemlich grossen und breiten Pappendeckel, der die Wand, das senkrechte Fundament war, auf dem sich das neue Jahr zu erheben gedachte. Dieses harte Papier war von einem noch härteren Glanz überzogen, von einer lackierten Schicht, einer spiegelnden, gewölbten Oberfläche, in der sich die Sonne konzentrierte, wenn der Wandkalender gegenüber dem Fenster hing, und in der, wie eine ferne Erzählung vom Wetter, die Färbungen des Himmels und der Luft zu lesen waren. Doch war diese Eigenschaft des Glanzes nur eine angenehme sekundäre. Während das Wichtigste die gepresste, erhabene Illustration auf dem Pappendeckel war, die, obwohl sie das ganze Jahr naturgemäss nicht wechselte, dennoch nicht die gleiche zu bleiben schien und ihre Aktualität bis zum 1. Dezember bewahrte, zu welcher Zeit schon die Erwartung des neuen Kalenders das Bild auf dem alten gewohnt und gewöhnlich machte.
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Joseph Roth (1894-1939) österreichischer Schriftsteller und Journalist
Auszug aus „Gedicht von Wandkalendern“ in „Panoptikum“
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Diese guten Augenblicke
Foto Brigitte Fuchs
(…)
Es wird mir nicht leicht, Ihnen anzudeuten, worin diese guten Augenblicke bestehen; die Worte lassen mich wiederum im Stich. Denn es ist ja etwas völlig Unbenanntes, und auch wohl kaum Benennbares, das in solchen Augenblicken, irgendeine Erscheinung meiner alltäglichen Umgebung mit einer überschwellenden Flut höheren Lebens wie ein Gefäss erfüllend, mir sich ankündet.
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Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) österreichischer Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker
Auszug aus „Ein Brief“ oder „Brief des Lord Chandos an Francis Bacon“
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Die grosse Ruhe
Foto Brigitte Fuchs
Die Natur ist die grosse Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit. Darum wird sie der Mensch immer mehr lieben, je feiner und beweglicher er werden wird. Sie gibt ihm die grossen Züge, die weiten Perspektiven und zugleich das Bild einer bei aller unermüdlichen Entwickelung erhabenen Gelassenheit.
Christian Morgenstern (1871-1914) deutscher Dichter und Schriftsteller
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Kneipe oder Kneippen
Foto Brigitte Fuchs: Kneippanlage in Egerkingen
Gesund bleiben und lang leben will jedermann, aber die wenigsten tun etwas dafür. Wenn die Menschen nur halb soviel Sorgfalt darauf verwenden würden, gesund zu bleiben und verständig zu leben, wie sie heute darauf verwenden, um krank zu werden, die Hälfte ihrer Krankheiten bliebe ihnen erspart.
Sebastian Kneipp (1821-1897) deutscher römisch-katholischer Priester aus Bayerisch-Schwaben, der als Kaltwassertherapie betreibender Hydrotherapeut und Naturheilkundler bekannt wurde.
P.S. Da hat wohl jemand die Kneipe im Kopf gehabt und nicht den Naturheilkundler Sebastian Kneipp und deshalb die Kneippanlage mit nur einem p geschrieben.
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Farbenrausch
Fotos Brigitte Fuchs
Sooft ich in die wunderbare Welt hineinblicke und mir vorstelle, ich schaute sie zum erstenmale an, so verwundre ich mich jedesmal über die unendliche Mannigfaltigkeit der Formen, über die verschiedenartigen Gebärden, die jedes Wesen unter den übrigen macht. (…)
Aber noch seltsamer fällt es mir auf, wenn ich die unterschiedlichen Farben betrachte, wodurch alle Gegenstände noch mehr getrennt, und denn gleichsam wieder verwandt und befreundet werden.
Wilhelm Heinrich Wackenroder (1773-1798) deutscher Schriftsteller
Aus „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst“, posthum herausgegeben von Ludwig Tieck 1799 (gelesen bei Aphorismen.de)
Fotos Brigitte Fuchs
Es sind Harmonien und Kontraste in den Farben verborgen, die ganz von selbst zusammenwirken.
Vincent van Gogh (1853-1890) holländischer Künstler
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Wenn man nur …
Fotos Brigitte Fuchs
Wenn man nur die wahre von der falschen Liebe unterscheiden könnte, so, wie man essbare von giftigen Pilzen unterscheidet! Mit Pilzen ist es so einfach – man salzt sie gut ein, legt sie zur Seite und wartet geduldig. Aber bei der Liebe – sobald man auf etwas gestossen ist, das auch nur die entfernteste Ähnlichkeit damit aufweist, ist man vollkommen sicher, dass es nicht nur ein echtes Exemplar ist, sondern vielleicht der einzige noch nicht gepflückte echte Pilz. Es braucht eine schreckliche Menge giftiger Pilze, bis man einsieht, dass das Leben nicht ein grosser, essbarer Pilz ist.
Katherine Mansfield (1888-1923) neuseeländische Schriftstellerin
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Blumenstrauss
Foto Brigitte Fuchs
Einen Blumenstrauss verschenken, einem armen Menschen zuhören, ein Kind erfreuen oder einem Menschen durch Verstehen helfen, dasein für irgendeinen, den Gott verliess und der sich auf dieser schrecklichen Welt nicht mehr zu trösten weiss, dem sie alle hinweggelaufen sind, das sind die grossen Dinge des Lebens!
Die ganz kluge Welt mit ihren Examen und Armeen und Richtern aller Sorten ist nicht das Grosse und Notwendige.
Helene Böhlau (1856-1940) deutsche Schriftstellerin und Vorkämpferin für Frauenrechte, verheiratet mit Omar al Raschid Bey
Aus ihrem Roman „Das Haus zur Flamm“ 1907
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Trau, schau, wem
Foto Brigitte Fuchs
Trau, schau, wem –
Unbequem.
Trau keinem mehr –
Das geht schon eh’r;
Trau unbekümmert allen –
Möcht‘ mir am besten gefallen.
Zum Wahlspruch hatt‘ ich mir’s genommen,
Doch ist mir’s oft nicht gut bekommen.
Bruno Alwin Wagner (1835-1917) deutscher Theologe, Gymnasiallehrer und Philologe
Aus „Gesammelte Reisesprüche für die Wanderung durch das Leben“, 1903
Foto Brigitte Fuchs
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Wo die wilden Kerle weiden…
Fotos Brigitte Fuchs: abendlich weidende Schafherde in den Aareauen bei Ruppoldingen
Ich wünsche dir die Fröhlichkeit
eines Vogels im Ebereschenbaum am Morgen,
die Lebensfreude eines Fohlens
auf der Koppel am Mittag,
die Gelassenheit eines Schafes
auf der Weide am Abend.
Altirischer Segenswunsch
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