Tagesarchive: 11. Januar 2022
Der Eichelhäher
Es sitzt ein Vogel im Eichenlaub und gibt ein Potpourri zum besten. Er schwatzt und plaudert, als wäre er ein Pirol oder Würger, und dann schnalzt er wie eine Eichkatze, miaut wie ein Bussard, trompetet wie ein Kranich, ruft wie ein Buntspecht, pfeift wie ein Star und quietscht wie ein Wagenrad. Jetzt kreischt er laut und gellend auf und schwebt dahin wie ein riesengrosser, bunter Schmetterling.

Der Markwart ist es, der Eichelhäher, der Schalksnarr und Irrwisch, Hans Dampf in allen Ecken, Bruder Immerlustig und Meister Wunderlich, der lustige Schwätzer, der fröhliche Spötter, der Hüpfer und Schlüpfer, Schweber und Flatterer, der Prahlhans und der Angstmeier, des Jägers Vergnügen, des Jägers Verdruss, Wildverkünder und Wildvergrämer, der Nestzerstörer und Eichenpflanzer, der alles kann, der alles sieht, alles kennt, der heute pfiffig und morgen dummdreist, eben vorlaut und frech und jetzt wieder heimlich und zage ist, der Vogel, dessen Stimme, dessen Benehmen ebenso voller Gegensätze ist wie sein Gefieder.

Wie fein, weich und zart ist das rötliche Grau seines Rumpfes. Wie herrlich ist der gelbliche, schwarz übertupfte Scheitel dazu gestimmt und das warme Braunrot der Flügeldecken. Wie toll aber stechen dagegen die leuchtend himmelblauen, schwarz und weiss gestriemten Achselklappen ab, die schwarzweissen Schwingen, die weissen Schwanzdeckfedern und der schwarze Schwanz. Eigentlich müssten diese harten Farben zu dem weichen Grundtone des Gefieders nicht passen, aber den Eichelhäher kleiden sie, bei ihm sind sie ebenso zusammengestimmt wie in seinem Gesange die feinen und die groben Laute, wie in seinem Charakter die freundlichen und die hässlichen Züge.
(…)
Hermann Löns (1866-1914) deutscher Journalist und Schriftsteller
Galt als Natur- und Heimatdichter, als Naturforscher und -schützer sowie als „Heidedichter“.
Auszug aus Hermannn Löns „Aus Forst und Flur. Vierzig Tiernovellen“

Alle Fotos Brigitte Fuchs
Veröffentlicht unter Bilder, Texte
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