Im Stillen

Foto Brigitte Fuchs: Aarau

 

Am 24. hab ich im Stillen an Sie gedacht, wie‘s verabredet war. Ich las (ganz unerwartet kam‘s dazu) Bossuet‘s Totenrede auf Madame Henriette d‘Angleterre, darüber wurde es spät, das Haus war still, aber man kann’s nie wissen, was noch kommt. Fast schon im Einschlafen, bekam ich noch einmal Weihnachten ins Bewusstsein: in dem hohen Atelierfenster, das ich, von meinem Schlafzimmer aus, in einiger Entfernung gegenüber habe, – ging, nach und nach, das volle Sternbild eines Christbaums auf und, zusammen mit den Glocken der Mitternachtsmette, wirkte diese liebe Erscheinung unverdient herüber, bis ich sie leise in den Schlaf hineinlöste.

 


Rainer Maria Rilke an Sidonie Nádherný von Borutin.
26. Dezember 1913 aus Paris

 

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10 Antworten auf Im Stillen

  1. merlin sagt:

    ein text mit viel atmosphäre und poesie, wie es rilke einfach konnte.
    dafür bewundere ich ihn.
    nach dem weihnachtsfest in munterer gesellschaft kehrt heute wieder stille ein.
    herzliche morgengrüsse zu dir.

    • Quer sagt:

      Ja, darin war Rilke ein Meister. Unvergleichlich.
      Bei uns kommt erst noch die muntere Gesellschaft: morgen und übermorgen. Dafür waren die Weihnachtstage herrlich beschaulich und ruhig. :–)
      Dir einen erbaulichen Stephanstag!

  2. Andrea sagt:

    das ist eine ganz besonders gelungene bild-text-komposition! da wie dort, da mit bildlichen, dort mit sprachlichen mitteln werden zwei in licht, kontur, struktur, material, zeit, … ganz unterschiedliche welten in einen blick zusammengeführt. wobei ich sagen muss, dass mich das bild noch mehr anspricht als der text. es ist in gewisser weise radikaler, vereint noch deutlichere gegensätze. finde ich sehr, sehr eindrücklich.

    liebe grüße – und bald stehen einander ja auch das alte und das neue jahr vielleicht auf diese weise gegenüber! hoffentlich ebenso gut zusammengeführt!
    andrea

  3. Quer sagt:

    Vielen Dank, Andrea.
    Das Foto, das ich von diesem Ortsteil von Aarau (der Halde) machen konnte, war reine Glückssache. Die Sonne stand schon so tief, dass sie durch den Torbogen schien und alles in goldenes Licht tauchte. Ich musste einfach ein Bild machen.

    Mal sehen, was uns der Jahreswechsel so bringt. :–)
    Sei lieb gegrüsst!

  4. mona lisa sagt:

    Da ist dir – mal wieder – eine sehr stimmige Komposition gelungen.
    Mich spricht in Rilkes Text die Unverdientheit an, für die er offensichtlich zutiefst dankbar ist.
    Herzliche Grüße

  5. Quer sagt:

    Oh ja, Mona Lisa, fast alles Schöne und zu Herzen Gehende ist unverdient und löst tiefe Dankbarkeit aus. Rilke hat das sehr hübsch in Worte gekleidet.

    Merci auch dir und herzliche Retourgrüsse.

  6. Gerhard sagt:

    Unverdient ist nichts, denn der, der wahrnimmt, hat es verdient. 🙂
    Schönen Morgen
    Gerhard

  7. Finbar sagt:

    Wundervoll schönes Foto mit feinem Licht 🌟🌟🌟
    Herzliche Weihnachtsgrüße vom Finbar
    PS: Rilke … immer irgendwie zauberhaft.

  8. Quer sagt:

    Danke, Lu.
    Herzliche Weihnachtsgrüsse zurück zu dir.

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