Oft pflücke ich auch keine Blumen…

Foto Brigitte Fuchs

 

»Habt ihr etwa ein Buch mit euch genommen, um auf dieser Bank zu lesen«, fragte ich, »oder habt ihr nicht Blumen gepflückt?«

»Ich habe kein Buch mitgenommen und habe keine Blumen gepflückt«, antwortete sie, »ich kann nicht lesen, wenn ich gehe, und kann auch nicht lesen, wenn ich im freien Felde auf einer Bank oder auf einem Steine sitze.«

Wirklich sah ich auch gar nichts neben ihr, sie hatte kein Körbchen oder sonst irgend etwas, das Frauen gerne mit sich zu tragen pflegen, um Gegenstände hinein legen zu können; sie sass müssig auf dem Bänklein, und ihr Strohhut, den sie von dem Haupte genommen hatte, lag neben ihr in dem Grase.

»Die Blumen pflücke ich«, fuhr sie nach einem Weilchen fort, »wenn sie bei Gelegenheit an dem Wege stehen. Hier herum ist meistens der Mohn, der aber wenig zu Sträussen passt, weil er gerne die Blätter fallen lässt, dann sind die Kornblumen, die Wegnelken, die Glocken und andere. Oft pflücke ich auch keine Blumen, wenn sie noch so reichlich vor mir stehen.«

 

 

Adalbert Stifter (1805-1868) österreichischer Schriftsteller, Pädagoge und Maler
Textauszug aus der Erzählung „Der Nachsommer“

 

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18 Antworten auf Oft pflücke ich auch keine Blumen…

  1. Eva sagt:

    Ja, warum nicht einfach nur ganz da sein, wo man ist?

    („Der Nachsommer“ übt einen merkwürdigen Zauber auf mich aus, obwohl er so durch und durch patriarchalisch ist. Alle paar Jahre lese ich dieses Buch neu.)

    Liebe Grüße von
    Eva

  2. Gundel Wismar sagt:

    Was für ein schöner Anblick! So anmutig. Sie zu pflücken wäre sehr schade.
    (Blumen im Park zu pflücken ist auch kein Kavaliersdelikt.)
    Schmunzelgruß 🐝👒
    Gundel

  3. merlin sagt:

    in der natur sind die blumen am schönsten 🙂

    draussen leicht herbstliche stimmung… etwas früh im jahr…
    glg.und einen stimmigen sonntag dir.

  4. Quer sagt:

    So ist es. Ohne wenn und aber. :–)

    Diese Herbststimmung im Juni ist wahrlich viel zu früh.
    Aber machen wir das beste daraus…
    Herzlichen Dank und frohen Sonntagsgruss zu dir.

  5. mona lisa sagt:

    Genießen ohne haben zu wollen –
    macht innerlich reich und zufrieden.
    Liebe Grüße

  6. Gerhard sagt:

    Ein genügsamer Geist, einer, der nur wenigen zu eigen ist.

    Liebe Sonntagssgrüsse
    Gerhard

  7. Hausfrau Hanna sagt:

    Danke,
    liebe Frau Quer,
    für diese wunderschöne Textstelle aus Stifters ‚Nachsommer‘!
    Genauso ist es, wenn ich auf dem Lande bin…

    Ihnen einen ganz herzlichen Gruss in den Sonntag
    Hausfrau Hanna

  8. Quer sagt:

    Fein, dass Sie diese Textstelle so schön bestätigen können, liebe Hausfrau Hanna.

    Vielen Dank und auch Ihnen einen rundum erfreulichen Tag!

  9. Anna-Lena sagt:

    Die sind viel zu schade zum Pflücken und würden als Anblick jegliches Buch ersetzen, weil sie soviel zu sagen haben …

    Einen schönen Sonntag und liebe Grüße,
    Anna-Lena

  10. Sonja sagt:

    …was Frauen mit sich zu tragen pflegen…Oh, er kannte sich gut aus!
    Meine Maxime, von jedem Gang in die Natur etwas mitzubringen, finde ich hier angesprochen. Wo hinein haben Herren Zeugs getan?
    Schöne Grüße aus dem Himbeerland
    Sonja

  11. Quer sagt:

    Die Herren haben Hosentaschen, Rucksäcke, Fahrradständer, Kofferräume… :–)
    Ja, ich bringe auch gerne etwas mit, Fotos vor allem, aber auch Steinchen, Schneckenhäuser, Wurzelholz…
    Gestern fand ich einen hübsch bemalten Stein (eine Comic-Kuh mit Glocke um den Hals und Blume im Maul). Den wird unsere Schwiegertochter mit einem Foto bei Facebook posten und danach wieder an anderer Stelle auslegen.
    Einen lieben Gruss zu dir.

  12. Tante Mali sagt:

    Stifter, wie schön und wie wundervoll zu diesem zauberhaften Foto.
    Schöne Zeit und liebste Grüße
    Elisabeth

  13. Quer sagt:

    Dein Besuch hier freut mich sehr, Elisabeth.
    Und dein Lob natürlich erst recht.
    Herzlichen Dank und schöne Grüsse zu dir nach Österreich.

    P.S. Ich gehe dann bei dir und Tante Mali mal auf Entdeckungsreise…

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