Silvester

Foto Brigitte Fuchs: Blick vom Homberg zu den Innerschweizer Bergen

 

 

Mein Fenster öffnet sich um Mitternacht,
Die Glocken dröhnen von den Türmen nieder,
Die Berge leuchten rings in Flammenpracht,
Und aus den dunklen Gassen hallen Lieder.
Will mir der Lärm, will mir der blut′ge Schein
Des nahen Völkerkriegs Erwachen deuten? –
Noch ist die Saat nicht reif. Die Glocken läuten
Dem neuen Jahr. – Wird es ein beßres sein?

Ein neues Jahr, in dem mit blassem Neid
Die Habsucht und die Niedertracht sich messen;
Ein neues Jahr, das nach Vernichtung schreit;
Ein neues Jahr, in dem die Welt vergessen,
Daß sie ein Altar dem lebend′gen Licht;
Ein neues Jahr, des dumpfe Truggewalten
Den Adlerflug des Geistes niederhalten;
Ein neues Jahr! – Ein beßres wird es nicht.

(…)

 

Frank Wedekind (1864-1918) deutscher Journalist, Dichter und Dramatiker
Erste zwei von elf Strophen seines Gedichtes „Silvester“

 

 

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Weit und breit

Foto Brigitte Fuchs: Teufenthal, am 11. Dezember 2022

 

Auch an diesen (teils sehr hellen)
Dezembertagen stehen wir
auf unseren Füssen. Nehmen
Mass an der Welt und wissen:
Es wird nicht genügen. Reden.
Ausreden. Manchmal etwas Feuer
unter der Haut. Und bald ein
neues Jahr. Das Neuste von allen.

 

 

Brigitte Fuchs
Aus „Handbuch des Fliegens“ Gedichte, edition 8, Zürich 2008

 

 

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Anagramm-Zweizeiler 567

Foto Brigitte Fuchs

 

 

 

RAT? WUNSCH? LIEBE?

ACH, WINTER-BLUES!

 

Brigitte Fuchs

 

 

Foto Brigitte Fuchs

 

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Lied vor Tag

 

Was bewegt dich, stiller Himmel?
Was beschwingt die schweren Wolken?
Herz, wie kommt die helle Höhe
übers tiefgraue Meer?

 

 

Durch die Wolken schwebt ein Vogel,
schwebt vorbei mit hellen Flügeln,
trägt die goldne Morgenröte
übers tiefgraue Meer.

 

 

Komm zurück, du goldner Vogel!
Nimm mich hoch in deine Höhe!
Trag mein Herz, du helle Hoffnung,
übers tiefgraue Meer!

 

 

Richard Dehmel (1863-1920), Richard Fedor Leopold Dehmel, deutscher Dichter, Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor

 

Alle Fotos Brigitte Fuchs

 

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Das Licht

Foto Brigitte Fuchs: Rütihof, neblige Sonne

 

Das Licht ist immer dünner geworden
ist bald
nur noch ein Widerschein
flatternd
wie ein zerrissener Traumschleier
vor dem übernächtigen Antlitz der Erde.

 

 

Henry Parland (1908-1930) finnland-schwedischer Dichter und Schriftsteller

 

Foto Brigitte Fuchs: Rütihof

 

 

 

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Im Stillen

Foto Brigitte Fuchs: Aarau

 

Am 24. hab ich im Stillen an Sie gedacht, wie‘s verabredet war. Ich las (ganz unerwartet kam‘s dazu) Bossuet‘s Totenrede auf Madame Henriette d‘Angleterre, darüber wurde es spät, das Haus war still, aber man kann’s nie wissen, was noch kommt. Fast schon im Einschlafen, bekam ich noch einmal Weihnachten ins Bewusstsein: in dem hohen Atelierfenster, das ich, von meinem Schlafzimmer aus, in einiger Entfernung gegenüber habe, – ging, nach und nach, das volle Sternbild eines Christbaums auf und, zusammen mit den Glocken der Mitternachtsmette, wirkte diese liebe Erscheinung unverdient herüber, bis ich sie leise in den Schlaf hineinlöste.

 


Rainer Maria Rilke an Sidonie Nádherný von Borutin.
26. Dezember 1913 aus Paris

 

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Ihnen/euch allen . . .

Foto Brigitte Fuchs

 

 

 

Es wird Zeit für die leiseren
Töne für den Schnee
und die Christrose

Es wird Zeit für die
Geduld der Engel

Und es wird Zeit für ein
neues Licht eines
das aufflammt
als Stern

 

 

Brigitte Fuchs

 

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs

 

 

24

 

 

Du brauchst nur zu lieben und alles ist Freude.

 

 

Kurt Tucholsky

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: „Bahnhofswolke“ in Aarau

 

23

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

»Was am schwersten war, dieses Mal?« sagte er und blies nachdenklich den Meteorstaub in die Luft, »am schwersten . . . Am schwersten war der Knacks.« – »Welcher Knacks?« sagte ich. »Der zwischen Jugend und dem andern, was dann kommt«, sagte er. »Manche nennen es: Mannesalter. Es hätte sollen ein Übergang sein, ein harmonisches Gleiten, ich weiß schon. Bei mir war es ein Knacks.« Der alte Herr probierte einen neuen Meteor aus, der sich emsig bemühte, die höhere Astronomie gänzlich durcheinanderzubringen – es war etwas ziemlich Hilfloses. Wir sahen erhaben zu, denn es ging uns so schön gar nichts an. »Ein Knacks, sagten Sie?« fing ich wieder an. »Ein Knacks«, sagte er. »Es war so:

Sie hopsen da herum, alles ist einfach klar – wenigstens scheint es Ihnen so. Was Sie nicht richtig durchschauen können, das umkleiden Sie mit einem herrlichen Nebel von Lyrik, Pubertät, Nichtachtung, Sorglosigkeit, tapsig hingehuschten Wolken; der tote Punkt in Ihrem Blickfeld ist eine Fläche, dahinein geht viel. Alles ist nur Spaß, wissen Sie, das macht die Sache, wenn auch nicht angenehm, so doch sehr erträglich. Alles ist nur Spaß.« – »Und dann –?« sagte ich. »Und dann –«, sagte er, »und dann ist das eines Tages – nein: nicht eines Tages, eines Tages ist es nicht aus. Viel schlimmer. Erst ist es nur ein leises Unbehagen, die Räder quietschten doch früher nicht? Dann wird Ihnen das Quietschen zur gewohnten Begleitmusik, dann schmeckt dies nicht mehr und dann jenes nicht, und dann fangen Sie auf einmal an, zu sehen.

(…)

»Waren Sie denn kein Mann?« sagte ich und mühte mich, das sehr neutral zu sagen. »Ein Mann?« sagte er. »Doch auch, ja. Ich kroch auch später den andern nach, und was früher Ideal gehießen hatte, hieß jetzt einfach: Zuspätkommen. Ein Mann erwachsen . . . Aber in einer Ecke meines Herzens, wissen Sie, da wo es am hellsten und dunkelsten zugleich ist – da bin ich doch immer ein Junge gewesen.«

Wir schwiegen. Und als ich mich nach ihm drehte, da war er nicht mehr da. Er hatte sich fallen lassen, vermutlich aus Scham, denn so etwas sagt man nicht.

(…)

Kurt Tucholsky

 

Aus „Die Weltbühne“ in Werke (1925-1928)

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Bahnhof Pasing in München

 

22

 

Unterwegs 1915

(…)

Morgens war wirklich Abmarsch und der scheußlichste Tag des gesamten Umzuges. Viele Kilometer ohne Pause, halbtote Pferde und fluchende Kutscher – es war nicht schön. Aber als wir abends verärgert, erschöpft, verschmutzt ankamen, genügte das Lied von den zehn Nonnen, ein Viertel Bier und die riesige Lebenskraft des Feldwebels, alles vergessen zu machen: den Marsch und die Anstrengungen und alles. Das Quartier war gut, das Bier auch.

Dann kam wieder ein Marschtag mit gelehrten Unterhaltungen. Dann ein Rastort, an dem scharf gekämpft worden war. Es stank daselbst heftig. Abends prügelte ich mich mit dem Koch des Kompanieführers: ich haue ihm ein paar hinter die Ohren, und er gießt mir etwas warmen, aromatischen Tee auf den Kopf. Und dann gehen wir schlafen.

(…)

Wir haben auf einer Bahnhofsstation geschlafen. Räume, die nie abgeschlossene Stuben waren, weil es durch sie ›zog‹, sind nun unsre Zimmer mit Stroh und geschlossenen Türen. Ich stehe auf dem leeren Bahnsteig und erwarte trotz allem Besserwissen den Zug.

Hier ist jetzt ein kleines Nest, vom Bahnhof eine Viertelstunde entfernt. Gestern haben wir reichlich und gut gegessen. Jemand aus Berlin hat gute Zigaretten geschickt. Den Rauch blies ich durch die Nase wie ein Groß-Sultan; wir tranken Kognak. Der Himmel war halbbedeckt. Durch die Sterne zogen fortwährend Sternschnuppen. Drei, vier, fünf. Und wenn ich eine sah, hatte ich immer nur denselben, einen Wunsch. Den Wunsch.

Kurt Tucholsky

 

 

 

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