Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Bahnhof Pasing in München

 

22

 

Unterwegs 1915

(…)

Morgens war wirklich Abmarsch und der scheußlichste Tag des gesamten Umzuges. Viele Kilometer ohne Pause, halbtote Pferde und fluchende Kutscher – es war nicht schön. Aber als wir abends verärgert, erschöpft, verschmutzt ankamen, genügte das Lied von den zehn Nonnen, ein Viertel Bier und die riesige Lebenskraft des Feldwebels, alles vergessen zu machen: den Marsch und die Anstrengungen und alles. Das Quartier war gut, das Bier auch.

Dann kam wieder ein Marschtag mit gelehrten Unterhaltungen. Dann ein Rastort, an dem scharf gekämpft worden war. Es stank daselbst heftig. Abends prügelte ich mich mit dem Koch des Kompanieführers: ich haue ihm ein paar hinter die Ohren, und er gießt mir etwas warmen, aromatischen Tee auf den Kopf. Und dann gehen wir schlafen.

(…)

Wir haben auf einer Bahnhofsstation geschlafen. Räume, die nie abgeschlossene Stuben waren, weil es durch sie ›zog‹, sind nun unsre Zimmer mit Stroh und geschlossenen Türen. Ich stehe auf dem leeren Bahnsteig und erwarte trotz allem Besserwissen den Zug.

Hier ist jetzt ein kleines Nest, vom Bahnhof eine Viertelstunde entfernt. Gestern haben wir reichlich und gut gegessen. Jemand aus Berlin hat gute Zigaretten geschickt. Den Rauch blies ich durch die Nase wie ein Groß-Sultan; wir tranken Kognak. Der Himmel war halbbedeckt. Durch die Sterne zogen fortwährend Sternschnuppen. Drei, vier, fünf. Und wenn ich eine sah, hatte ich immer nur denselben, einen Wunsch. Den Wunsch.

Kurt Tucholsky

 

 

 

Dieser Beitrag wurde unter Bilder, Texte veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

10 Antworten auf Advent mit Tucholsky

  1. merlin sagt:

    das sind zeilen, die bei mir unschöne bilder an die militärzeit wecken.
    die bedürfnisse reduzieren sich auf elementare dinge.
    ich habe mir immer gewünscht, dass es möglichst bald zu ende wäre…

    zurück aus den bergen sind wir im früh-frühling gelandet…
    herzliche morgengrüsse zu dir.

  2. Quer sagt:

    So stelle ich mir das auch vor, Merlin: Alles was mit Militär (oder gar Kriegseinsätzen) zu tun hat, weckt bei denen, die damit konfrontiert waren, ungute bis traumatische Erinnerungen. Bei Tucholsky waren das bestimmt sehr prägende Eindrücke.

    Tja, es ist nachwinterlich geworden im Tal. :–)
    Hoffentlich hattet ihr noch Winterfeeling da oben.
    Einen lieben Gruss und viel Schönes auch zu Hause!

  3. Andrea sagt:

    dieser eine ist wohl der wunsch nach frieden. und diesen wunsch teilen wir heute ja wieder aus einer aktualität heraus, die zumindest ich nicht mehr für möglich gehalten hätte …

    liebe grüße, andrea

  4. PepeB sagt:

    Angesichts der geschilderten Umstände kann ein einziger Wunsch alles werden.
    Liebe Grüße
    Petra

  5. Gerhard sagt:

    Mein Nachbar geriet als 15-Jähriger in Gefangenschaft. Seiner Aussage nach begann ein ruhiges Leben erst Mitte der 50er für ihn.
    Man kann sich das kaum vorstellen.

    Für Sensible ist das nichts, die Militärzeit.
    Ich selbst war sehr sensibel (in der Bundeswehrzeit): Einmal weinte ich vor dem zuständigen Spies, weil ich 7 Wochenenden hintereinander Dienst bekam.
    Doch es gab noch Sensiblere, bestimmt. Das tröstete mich etwas.

    Liebe Grüsse
    Gerhard

  6. Quer sagt:

    Ach, das sind wirklich üble Rückblenden, seufz!
    Wie gut, dass das alles für dich zur Vergangenheit gehört…

    Lieben Retourgruss.

  7. Sylvia sagt:

    oweh. da stockt mir wirklich der atem.
    weil es ja nicht wirklich vergangenheit ist.
    und beim nicht ausgesprochenen, aber sehnlichen
    wunsch. ach. ach. ach.
    all das ist wieder da, oder noch da. und nun
    bei uns um die ecke. denke an Großvater, Vater…
    und all die, die auch heute solches und ähnliches
    erleben müssen.
    nachdenkliche grüße
    Sylvia

  8. Quer sagt:

    Ganz richtig, liebe Sylvia: Der Text ist wieder so aktuell, dass es weh tut.
    Hab Dank für deine Zeilen und sei herzlich gegrüsst!

Schreibe einen Kommentar zu Quer Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert