Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: „Bahnhofswolke“ in Aarau

 

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Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

»Was am schwersten war, dieses Mal?« sagte er und blies nachdenklich den Meteorstaub in die Luft, »am schwersten . . . Am schwersten war der Knacks.« – »Welcher Knacks?« sagte ich. »Der zwischen Jugend und dem andern, was dann kommt«, sagte er. »Manche nennen es: Mannesalter. Es hätte sollen ein Übergang sein, ein harmonisches Gleiten, ich weiß schon. Bei mir war es ein Knacks.« Der alte Herr probierte einen neuen Meteor aus, der sich emsig bemühte, die höhere Astronomie gänzlich durcheinanderzubringen – es war etwas ziemlich Hilfloses. Wir sahen erhaben zu, denn es ging uns so schön gar nichts an. »Ein Knacks, sagten Sie?« fing ich wieder an. »Ein Knacks«, sagte er. »Es war so:

Sie hopsen da herum, alles ist einfach klar – wenigstens scheint es Ihnen so. Was Sie nicht richtig durchschauen können, das umkleiden Sie mit einem herrlichen Nebel von Lyrik, Pubertät, Nichtachtung, Sorglosigkeit, tapsig hingehuschten Wolken; der tote Punkt in Ihrem Blickfeld ist eine Fläche, dahinein geht viel. Alles ist nur Spaß, wissen Sie, das macht die Sache, wenn auch nicht angenehm, so doch sehr erträglich. Alles ist nur Spaß.« – »Und dann –?« sagte ich. »Und dann –«, sagte er, »und dann ist das eines Tages – nein: nicht eines Tages, eines Tages ist es nicht aus. Viel schlimmer. Erst ist es nur ein leises Unbehagen, die Räder quietschten doch früher nicht? Dann wird Ihnen das Quietschen zur gewohnten Begleitmusik, dann schmeckt dies nicht mehr und dann jenes nicht, und dann fangen Sie auf einmal an, zu sehen.

(…)

»Waren Sie denn kein Mann?« sagte ich und mühte mich, das sehr neutral zu sagen. »Ein Mann?« sagte er. »Doch auch, ja. Ich kroch auch später den andern nach, und was früher Ideal gehießen hatte, hieß jetzt einfach: Zuspätkommen. Ein Mann erwachsen . . . Aber in einer Ecke meines Herzens, wissen Sie, da wo es am hellsten und dunkelsten zugleich ist – da bin ich doch immer ein Junge gewesen.«

Wir schwiegen. Und als ich mich nach ihm drehte, da war er nicht mehr da. Er hatte sich fallen lassen, vermutlich aus Scham, denn so etwas sagt man nicht.

(…)

Kurt Tucholsky

 

Aus „Die Weltbühne“ in Werke (1925-1928)

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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24 Antworten auf Advent mit Tucholsky

  1. Valentina sagt:

    Mir gefällt die Szene auf der Wolke als Methapher fürs Erwachsenwerden – Sprich Pubertät – von Tucholski. Und die Kombination mit dem Bild.
    Es sind schon mächtige Kräfte, die da im Menschen wirken, die manchmal schwer zu ertragen sind beim Übergang ins Erwachsenwerden.
    Und später das Kindliche, das weiterlebt ein Leben lang, zu bewahren oder wieder entdecken und auszudrücken, kann Mut brauchen und mit Scham verbunden sein.

    Danke für die interessante Anregung, Brigitte.
    Einen schönen Tag, der ein noch kurzer ist. Lieben Gruss!

  2. Quer sagt:

    Das Kindliche spricht ja aus allen Zeilen dieses Textes, der sich im Jenseits abspielt und mit leiser Ironie das Menschsein auf diese surreale Ebene hebt. :–)

    Danke für deine schönen Assoziationen dazu, Valentina.
    Und auch dir einen zwar kurzen, aber hoffentlich freudigen Tag!
    Grüss dich!

  3. Gerhard sagt:

    Das Mannesalter, das war Verantwortung, vor allem für sich selbst.
    Aber meine Kindheit war alles andere als einfach, insofern gab sich nur eine Klinke der anderen die Hand.

    Liebe Grüsse
    Gerhard

    • Quer sagt:

      Tja, wie das Leben so spielt.
      Ich hatte zum Glück eine unbeschwerte, fröhliche Kindheit. – Was sicher nicht selbstverständlich ist.

      Einen lieben Retourgruss.

  4. Britta sagt:

    Auf einer Wolke sitzen und die Beine baumeln lassen, dieses Bild gefällt mir. Erwachsen werden ist nicht einfach. Damals in zu Tucholsky‘s Zeiten des Umbruchs und Krieges kam das Erwachsen werden wohl oft sehr abrupt. Das hat sicher den einen oder anderen „Knacks“ hinterlassen.
    herzliche Grüsse Britta

  5. Quer sagt:

    Genau so verstehe ich den Text auch, Britta.

    Lieben Dank und schöne Grüsse zu dir.

  6. merlin sagt:

    den knaben oder das mädchen in uns ins alter zu retten, ein feines unterfangen.
    zudem stelle ich mir buspassagiere in aarau vor, die auf der bahnhofswolke sitzen und die beine baumeln lassen 😉
    diese architektonische kreation gefällt mir!
    einen frohen tag dir und herzliche grüsse vom schreibtisch.

  7. Quer sagt:

    Stimmt. Es ist schön, wenn man sich etwas Kindliches bis ins fortgeschrittene Alter bewahren kann.
    Ob man auf der Aarauer Wolke sitzen könnte? Wohl kaum. Aber die Vorstellung gefällt mir ausnehmend gut. :–)
    Hab ebenfalls einen frohen Tag und sei lieb gegrüsst!

    P.S. Das Folienkissendach wurde, so konnte ich nachlesen, entworfen von den Architekten Vehovar & Jauslin.

  8. Hausfrau Hanna sagt:

    Eine Ecke im Herzen,
    liebe Frau Quer,
    sollte immer ‚offen‘ bleiben für das Kind, das einmal gewesen ist:
    Sitzend auf einer Wolke, mit den Beinen baumelnd und die Welt von oben bestaunend…

    In Aarau aus dem Zug zu steigen, stelle ich mir schön vor 🙂

    Mit einem herzlichen Gruss aus Basel
    Hausfrau Hanna

  9. Quer sagt:

    Exakt so sollte es sein, liebe Hausfrau Hanna.
    Und ja, die Wolke in Aarau ist etwas Besonderes, (die Architekten haben dafür auch einen Architekturpreis gewonnen). Sie macht einen luftig-leichten, schwebenden Eindruck.

    Einen herzlichen Retourgruss zu Ihnen nach Basel.

  10. mona lisa sagt:

    Für das kindliche in mir habe ich meine Schaukel im Garten 😉
    wobei die Assoziation, Beine baumelnd auf der Wolke zu sitzen auch etwas hat.
    So einen Bahnhof betritt man sicher gern, bzw. wird gern von dieser Wolke bei seiner Ankunft empfangen.
    Hier gibt’s heute nicht einmal Wolken, nur einen einheitlich grauen Himmel.
    Dennoch schicke ich dir fröhlich friedliche Grüße

  11. Quer sagt:

    Schaukeln sind auch für mich wunderbare Orte, die an die Kindheit erinnern.
    Und der Bahnhof Aarau wurde durch diese „Wolke“ in der Tat sehr aufgewertet.
    Fröhlich-friedliche Grüsse auch von mir, ebenfalls vor einheitlichem Himmelsgrau.

  12. Sonja sagt:

    Es gab zuzeiten ein Buch von Roger Willemsen mit dem Titel „Der Knacks“, gerne gelesen, aber nicht mehr wissend, ob es eine ähnliche Thematik hat wie hier.
    Die Bahnhofswolke ist genial!
    Schöne Grüße
    Sonja

  13. PepeB sagt:

    So viele Assoziationen habe ich bei diesem Text, zu viele.
    Hier mal die zu Leonard Cohen:
    There is a crack, a crack in everything, that’s where the light gets in.
    Das hat mich mit dem Knacks versöhnt.
    Kindlich-frohe Grüße und Begeisterung über den Wolkenbahnhof
    Petra

  14. Quer sagt:

    Wie schön, das mit dem Riss und dem Licht, das da durchscheint.
    Danke für den Querverweis, Petra.
    Und einen fröhlichen Gruss zurück zu dir.

  15. Lo sagt:

    Liebe Brigitte,
    Du machst so vielen Menschen (und mir) mit Deinen schönen täglichen Beiträgen eine Freude. Dankeschön dafür.
    Hab ein richtig schönes Weihnachtsfest…
    Liebe, herzliche Grüße!
    Lo

  16. Roswitha sagt:

    es ist wie immer wunderbar bei dir, liebe brigitte: die bilder und der text dazu, deine idee mit tucholsky begeistert mich! dieser text ist ein weihnachtsgeschenk
    für unsere enkel. hab es gut, liebe brigitte, herzlichen gruß, roswitha

  17. Quer sagt:

    Es freut mich natürlich, Roswitha, dass die Tucholsky-Beiträge so gut bei dir und anderen ankommen. (Schön, wenn sie weitergetragen werden.)
    Auch mir imponiert Tucholskys Beobachtungsgabe sowie seine Art, heiter und ernst zugleich zu schreiben.
    Einen lieben Retourgruss.

  18. Helmut sagt:

    Eine sehr schöne Feierzeit dir, z.B. Weihnachten, Hanuka oder Wintersonnwende.

  19. Quer sagt:

    Vielen Dank, Helmut.
    Bei uns stehen Weihnachten und Neujahr im Vordergrund.
    Auch dir wünsche ich frohe, friedliche und festliche Feiertage!
    Sei lieb gegrüsst!

  20. Anna-Lena sagt:

    Liebe Brigitte,
    danke, dass du mir Tucholsky auf so sympathische Weise näher gebracht hast!
    Dir und deinen Lieben gesegnete Weihnachtstage mit Licht und Wärme, Liebe und Frieden.

    Bis bald wieder, bleib gesund und zuversichtlich.

    Herzliche Grüße,
    Anna-Lena

  21. Quer sagt:

    Es war mir eine Ehre, liebe Anna-Lena.
    Schöne, freudige, gesunde und beschauliche Weihnachtstage wünsche ich auch dir.
    Ein liebes Dankeschön und frohe Grüsse.

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