Archiv der Kategorie: Texte

Der Axtdieb

Foto Brigitte Fuchs

 

Ein Mann fand eines Tages seine Axt nicht mehr. Er suchte und suchte, aber
sie war verschwunden. Der Mann wurde ärgerlich und verdächtigte
den Sohn seines Nachbarn, die Axt genommen zu haben.
An diesem Tag
beobachtete er den Sohn seines Nachbarn ganz genau. Und tatsächlich:
Der Gang des Jungen war der Gang eines Axtdiebs. Die Worte, die er sprach, waren die Worte eines Axtdiebs. Sein ganzes Wesen und sein Verhalten waren die eines Axtdiebs.

Am Abend fand der Mann die Axt durch Zufall hinter einem grossen Korb in seinem eigenen Schuppen. Als er am nächsten Morgen den Sohn seines Nachbars erneut betrachtete, fand er weder in dessen Gang noch in seinen Worten oder seinem Verhalten irgendetwas von einem Axtdieb.

 

 

Nach Laotse, 6. Jahrhundert v. Chr. chinesischer Philosoph

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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Spiegel der Muse

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Sich zu schmücken begierig, verfolgte den rinnenden Bach einst
Früh die Muse hinab, sie suchte die ruhigste Stelle.
Eilend und rauschend indes verzog die schwankende Fläche
Stets das bewegliche Bild; die Göttin wandte sich zürnend;
Doch der Bach rief hinter ihr drein und höhnte sie: Freilich
Magst du die Wahrheit nicht sehn, wie rein sie mein Spiegel dir zeiget!
Aber indessen stand sie schon fern, am Winkel des Seees,
Ihrer Gestalt sich erfreuend, und rückte den Kranz sich zurechte.

 

 

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) deutscher Dichter und Universalgelehrter

 

Foto Brigitte Fuchs: Hallwilersee

 

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Im Stillen

Foto Brigitte Fuchs: Aarau

 

Am 24. hab ich im Stillen an Sie gedacht, wie‘s verabredet war. Ich las (ganz unerwartet kam‘s dazu) Bossuet‘s Totenrede auf Madame Henriette d‘Angleterre, darüber wurde es spät, das Haus war still, aber man kann’s nie wissen, was noch kommt. Fast schon im Einschlafen, bekam ich noch einmal Weihnachten ins Bewusstsein: in dem hohen Atelierfenster, das ich, von meinem Schlafzimmer aus, in einiger Entfernung gegenüber habe, – ging, nach und nach, das volle Sternbild eines Christbaums auf und, zusammen mit den Glocken der Mitternachtsmette, wirkte diese liebe Erscheinung unverdient herüber, bis ich sie leise in den Schlaf hineinlöste.

 


Rainer Maria Rilke an Sidonie Nádherný von Borutin.
26. Dezember 1913 aus Paris

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: „Bahnhofswolke“ in Aarau

 

23

Wir saßen auf der Wolke und ließen die Beine baumeln.

»Was am schwersten war, dieses Mal?« sagte er und blies nachdenklich den Meteorstaub in die Luft, »am schwersten . . . Am schwersten war der Knacks.« – »Welcher Knacks?« sagte ich. »Der zwischen Jugend und dem andern, was dann kommt«, sagte er. »Manche nennen es: Mannesalter. Es hätte sollen ein Übergang sein, ein harmonisches Gleiten, ich weiß schon. Bei mir war es ein Knacks.« Der alte Herr probierte einen neuen Meteor aus, der sich emsig bemühte, die höhere Astronomie gänzlich durcheinanderzubringen – es war etwas ziemlich Hilfloses. Wir sahen erhaben zu, denn es ging uns so schön gar nichts an. »Ein Knacks, sagten Sie?« fing ich wieder an. »Ein Knacks«, sagte er. »Es war so:

Sie hopsen da herum, alles ist einfach klar – wenigstens scheint es Ihnen so. Was Sie nicht richtig durchschauen können, das umkleiden Sie mit einem herrlichen Nebel von Lyrik, Pubertät, Nichtachtung, Sorglosigkeit, tapsig hingehuschten Wolken; der tote Punkt in Ihrem Blickfeld ist eine Fläche, dahinein geht viel. Alles ist nur Spaß, wissen Sie, das macht die Sache, wenn auch nicht angenehm, so doch sehr erträglich. Alles ist nur Spaß.« – »Und dann –?« sagte ich. »Und dann –«, sagte er, »und dann ist das eines Tages – nein: nicht eines Tages, eines Tages ist es nicht aus. Viel schlimmer. Erst ist es nur ein leises Unbehagen, die Räder quietschten doch früher nicht? Dann wird Ihnen das Quietschen zur gewohnten Begleitmusik, dann schmeckt dies nicht mehr und dann jenes nicht, und dann fangen Sie auf einmal an, zu sehen.

(…)

»Waren Sie denn kein Mann?« sagte ich und mühte mich, das sehr neutral zu sagen. »Ein Mann?« sagte er. »Doch auch, ja. Ich kroch auch später den andern nach, und was früher Ideal gehießen hatte, hieß jetzt einfach: Zuspätkommen. Ein Mann erwachsen . . . Aber in einer Ecke meines Herzens, wissen Sie, da wo es am hellsten und dunkelsten zugleich ist – da bin ich doch immer ein Junge gewesen.«

Wir schwiegen. Und als ich mich nach ihm drehte, da war er nicht mehr da. Er hatte sich fallen lassen, vermutlich aus Scham, denn so etwas sagt man nicht.

(…)

Kurt Tucholsky

 

Aus „Die Weltbühne“ in Werke (1925-1928)

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Bahnhof Pasing in München

 

22

 

Unterwegs 1915

(…)

Morgens war wirklich Abmarsch und der scheußlichste Tag des gesamten Umzuges. Viele Kilometer ohne Pause, halbtote Pferde und fluchende Kutscher – es war nicht schön. Aber als wir abends verärgert, erschöpft, verschmutzt ankamen, genügte das Lied von den zehn Nonnen, ein Viertel Bier und die riesige Lebenskraft des Feldwebels, alles vergessen zu machen: den Marsch und die Anstrengungen und alles. Das Quartier war gut, das Bier auch.

Dann kam wieder ein Marschtag mit gelehrten Unterhaltungen. Dann ein Rastort, an dem scharf gekämpft worden war. Es stank daselbst heftig. Abends prügelte ich mich mit dem Koch des Kompanieführers: ich haue ihm ein paar hinter die Ohren, und er gießt mir etwas warmen, aromatischen Tee auf den Kopf. Und dann gehen wir schlafen.

(…)

Wir haben auf einer Bahnhofsstation geschlafen. Räume, die nie abgeschlossene Stuben waren, weil es durch sie ›zog‹, sind nun unsre Zimmer mit Stroh und geschlossenen Türen. Ich stehe auf dem leeren Bahnsteig und erwarte trotz allem Besserwissen den Zug.

Hier ist jetzt ein kleines Nest, vom Bahnhof eine Viertelstunde entfernt. Gestern haben wir reichlich und gut gegessen. Jemand aus Berlin hat gute Zigaretten geschickt. Den Rauch blies ich durch die Nase wie ein Groß-Sultan; wir tranken Kognak. Der Himmel war halbbedeckt. Durch die Sterne zogen fortwährend Sternschnuppen. Drei, vier, fünf. Und wenn ich eine sah, hatte ich immer nur denselben, einen Wunsch. Den Wunsch.

Kurt Tucholsky

 

 

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs

 

21

 

 

Büchertisch

Wie alljährlich, so breiten wir auch heuer für unsere Leser die Gaben der deutschen Literatur auf den Weihnachtstisch aus, damit jeder sich für die kerzenflimmernde Tanne das aussuchen möge, was ihm besonders am Herzen liegt. »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«, denken wir mit Oskar A. H. Schiller, und ist doch ein gutes deutsches Buch wie kein anderes geschaffen, ja bestimmt, neben dem nervenstärkenden Fußball und der Gesundheitswäsche auf dem Gabentische zu prangen. Wohlan –!

Kurt Tucholsky

 

 

Foto Brigitte Fuchs

 

P.S. Gemeint hat Kurt Tucholsky wohl den Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz (1873-1931), Erzähler, Dramatiker und Essayist, lebte u. a. in München, Berlin, Paris und Salzburg und hielt sich längere Zeit in Italien, Spanien, Marokko und Ägypten auf. Seine intimen Tagebücher erscheinen im Aufbau-Verlag in drei Bänden: Band 1 (1896-1906): Das wilde Leben der Boheme, Band 2 (1907-1912): Ein Dandy auf Reisen, Band 3 (1912-1918): Durch das Land der Dämonen.

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Historischer Briefkasten, gesehen vor Jahren in Basel

 

 

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Der Floh

 

Im Departement du Gard – ganz richtig, da, wo Nîmes liegt und der Pont du Gard: im südlichen Frankreich – da saß in einem Postbüro ein älteres Fräulein als Beamtin, die hatte eine böse Angewohnheit: sie machte ein bißchen die Briefe auf und las sie. Das wußte alle Welt. Aber wie das so in Frankreich geht: Concierge, Telefon und Post, das sind geheiligte Institutionen, und daran kann man schon rühren, aber daran darf man nicht rühren, und so tut es denn auch keiner.

Das Fräulein also las die Briefe und bereitete mit ihren Indiskretionen den Leuten manchen Kummer.

Im Departement wohnte auf einem schönen Schlosse ein kluger Graf. Grafen sind manchmal klug, in Frankreich. Und dieser Graf tat eines Tages folgendes:
Er bestellte sich einen Gerichtsvollzieher auf das Schloß und schrieb in seiner Gegenwart an einen Freund:

 

Lieber Freund!

Da ich weiß, daß das Postfräulein Emilie Dupont dauernd unsre Briefe öffnet und sie liest, weil sie vor lauter Neugier platzt, so sende ich Dir inliegend, um ihr einmal das Handwerk zu legen, einen lebendigen Floh.

Mit vielen schönen Grüßen

Graf Koks

 

Und diesen Brief verschloß er in Gegenwart des Gerichtsvollziehers. Er legte aber keinen Floh hinein.

Als der Brief ankam, war einer drin.

 

Kurt Tucholsky

 

 

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Advent mit Tucholsky

Fotos Brigitte Fuchs

 

 

18

 

 

Die diskreditierte Literatur

Das deutsche Lesepublikum scheint mit einem großen Wurstkessel verglichen werden zu dürfen. Oben stehen die Köche – das sind die Herren Verleger – und schütten und schütten Würste hinein. Wie lange noch, und der Kessel ist voll.

Wie soll das werden? Früher, das war eine schöne Zeit. Gewiß, die Bücher waren nicht so billig wie heute, und auch die Drucktechnik ließ noch zu wünschen übrig. Aber wie liebte man so ein schmales Bändchen, wie kannte man jeden Buchstaben auf dem Einband, wie zärtlich streichelte man das oft gelesene Buch! Heute hat sich der Druck verbessert, die Ausstattung ist fast durchweg gut – aber die Bücher sind wohlfeil geworden und die Liebe zu ihnen auch.

(…)

Kurt Tucholsky

 

Foto Brigitte Fuchs

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs

 

17

 

Kindertheater

 

Wie war das doch? –

Schon der Nachmittag war unruhig und bewegt – Theater! Und wir gingen von zu Hause fort, durch die noch hellen Straßen, blind für alles Licht, vorwärtsstrebend, stumm. Das große Gebäude, die Kasse, die vielen Menschen, – drängte sich nicht ein Mädchen mit blauschimmernden Flügeln am Rücken durch sie alle? – die Garderobe – das wurde ungeduldig und schnell, hastig erledigt.

Wir traten in den riesigen Raum voll Lichtern, heißer Luft und summenden Gesprächen. Wir kamen stets spät; der Saal verdunkelte sich, und unten im Orchester klopfte ein Stäbchen aus Holz. Und Töne, die bis dahin gebrummt und quinkiliert hatten, verstummten, und der Strich von zwanzig Geigen setzte ein. O süßer Moment, wenn die Ouvertüre beginnt, im Halbdunkel der wenigen Lämpchen schwimmen Gesichter, helle Schöße der Frauen, oben bauscht sich der Vorhang ein wenig . . . Musik! Die Musik spielte – und die Backen wurden heiß und die Hände, Musik, immer noch Musik, und jetzt erhob sich der Vorhang.

Das Stück begann.

(…)

 

Kurt Tucholsky

Aus dem Jahre 1913

 

Foto Brigitte Fuchs: Theater Tuchlaube, das inzwischen mit anderen Institutionen zur „Bühne Aarau“ gehört

 

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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Leuchtturm bei Cuxhaven

 

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Die letzte Seite

Mein Beruf – ich bin Zweiter Leuchtturmwächter auf der kleinen Ostseeinsel Achnoe, und die Nächte sind lang – mein Beruf zwingt mich, viel und ausgiebig zu lesen. Um neue Bücher ist mir nicht bange – die bekomme ich von meinem Freund, Herrn Andreas Portrykus, dem Nachtredakteur des ›Strahlförder Generalanzeigers‹ (mit Unfallversicherung). Er schenkt mir alle Rezensionsexemplare, und so lese ich Nacht für Nacht, alles durcheinander: Romane und Reisebeschreibungen und zarte, sinnige Geschichten aus edler Frauenhand, und was man eben so liest.

Und wenn der Wind an die dicken Scheiben stößt, wenn mein Burgunderpunsch auf dem Tisch dampft, der bräunliche Tabak knastert und ich alter Mann wieder einmal froh bin, diesen Posten ergattert zu haben –: dann kommt es wohl vor, daß ich aus Zerstreutheit und guter Laune die Bücher von hinten zu lesen beginne, so, wie man aus einem Kuchen sich zuerst die Rosinen herausknabbert. Und da bin ich zu der Entdeckung gekommen, daß die Schlüsse all der vielen Bücher sich deutlich nach verschiedenen Arten gruppieren lassen. Es gibt Normalschlüsse, die immer wiederkehren: der Autor mag vom Mond heruntergefallen sein, am Schlusse besinnt er sich doch auf sein edles Menschentum und redet deutsch.

Heute nacht habe ich wieder vier Pfund Bücher gelesen – mir ist noch manches im Gedächtnis. Ich will es einmal versuchen.

(…)

Ja, wird stets der geneigte Leser nun sagen: Das ist ja alles sehr schön und nett – aber wie soll denn ein Buchschluß nun sein? Diese gefallen doch dem Herrn Leuchtturmwächter alle nicht . . .

Ich muß sagen, daß ich in meiner jetzt zwanzigjährigen Dienstzeit nur einmal einen wirklich guten, ehrlichen und motivierten Buchschluß gefunden habe. Er fand sich in einem Gedichtbüchlein ›Frühlingsstimmen‹ von Herrn Hugo Taubensee. Der Mann war – wie man aus dem beigehefteten Porträt sehen konnte – Postschaffner, aber auch Dichter, eine der so häufigen Verbindungen von Geschäftsmann und Romantiker. Der Verleger war nur Geschäftsmann.

Diese ›Frühlingsstimmen‹ klangen folgendermaßen aus:

»Mitteilung an den Leser!

Die gesammelten Gedichte des Verfassers gehen in Wirklichkeit noch weiter. Weil ich aber nicht in der bemittelten Lage bin, weiteres Papier und auch die Druckkosten anzuschaffen, so sehe ich mich gezwungen, die Gedichte hier abzubrechen. Ich will aber, wenn der Absatz dieses Büchleins ein entsprechender ist, die ›Frühlingsstimmen‹ gern fortsetzen. Die Leser handeln also im eigenen Interesse, wenn sie das Buch fleißig kaufen und weiter empfehlen!«

Das heiß ich einen Schluß! Von jetzt an werde ich mich mehr den Anfängen zuwenden.

Kurt Tucholsky

 

 

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