Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Leuchtturm bei Cuxhaven

 

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Die letzte Seite

Mein Beruf – ich bin Zweiter Leuchtturmwächter auf der kleinen Ostseeinsel Achnoe, und die Nächte sind lang – mein Beruf zwingt mich, viel und ausgiebig zu lesen. Um neue Bücher ist mir nicht bange – die bekomme ich von meinem Freund, Herrn Andreas Portrykus, dem Nachtredakteur des ›Strahlförder Generalanzeigers‹ (mit Unfallversicherung). Er schenkt mir alle Rezensionsexemplare, und so lese ich Nacht für Nacht, alles durcheinander: Romane und Reisebeschreibungen und zarte, sinnige Geschichten aus edler Frauenhand, und was man eben so liest.

Und wenn der Wind an die dicken Scheiben stößt, wenn mein Burgunderpunsch auf dem Tisch dampft, der bräunliche Tabak knastert und ich alter Mann wieder einmal froh bin, diesen Posten ergattert zu haben –: dann kommt es wohl vor, daß ich aus Zerstreutheit und guter Laune die Bücher von hinten zu lesen beginne, so, wie man aus einem Kuchen sich zuerst die Rosinen herausknabbert. Und da bin ich zu der Entdeckung gekommen, daß die Schlüsse all der vielen Bücher sich deutlich nach verschiedenen Arten gruppieren lassen. Es gibt Normalschlüsse, die immer wiederkehren: der Autor mag vom Mond heruntergefallen sein, am Schlusse besinnt er sich doch auf sein edles Menschentum und redet deutsch.

Heute nacht habe ich wieder vier Pfund Bücher gelesen – mir ist noch manches im Gedächtnis. Ich will es einmal versuchen.

(…)

Ja, wird stets der geneigte Leser nun sagen: Das ist ja alles sehr schön und nett – aber wie soll denn ein Buchschluß nun sein? Diese gefallen doch dem Herrn Leuchtturmwächter alle nicht . . .

Ich muß sagen, daß ich in meiner jetzt zwanzigjährigen Dienstzeit nur einmal einen wirklich guten, ehrlichen und motivierten Buchschluß gefunden habe. Er fand sich in einem Gedichtbüchlein ›Frühlingsstimmen‹ von Herrn Hugo Taubensee. Der Mann war – wie man aus dem beigehefteten Porträt sehen konnte – Postschaffner, aber auch Dichter, eine der so häufigen Verbindungen von Geschäftsmann und Romantiker. Der Verleger war nur Geschäftsmann.

Diese ›Frühlingsstimmen‹ klangen folgendermaßen aus:

»Mitteilung an den Leser!

Die gesammelten Gedichte des Verfassers gehen in Wirklichkeit noch weiter. Weil ich aber nicht in der bemittelten Lage bin, weiteres Papier und auch die Druckkosten anzuschaffen, so sehe ich mich gezwungen, die Gedichte hier abzubrechen. Ich will aber, wenn der Absatz dieses Büchleins ein entsprechender ist, die ›Frühlingsstimmen‹ gern fortsetzen. Die Leser handeln also im eigenen Interesse, wenn sie das Buch fleißig kaufen und weiter empfehlen!«

Das heiß ich einen Schluß! Von jetzt an werde ich mich mehr den Anfängen zuwenden.

Kurt Tucholsky

 

 

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16 Antworten auf Advent mit Tucholsky

  1. Valentina sagt:

    Das heiss ich einen Tagesanfang! Vergnüglich, über die Lesegewohnheiten und Gedanken des alten Turmwächters zu lesen. Mal schauen, welche Schlüsse ich daraus ziehen kann 😉.
    Lieben Gruss und einen schönen Tag!

  2. Quer sagt:

    Ja, da sind einige Möglichkeiten offen. :–)

    Herzlichen Dank, Valentina, und liebe Grüsse in den Tag.

  3. merlin sagt:

    eine köstliche geschichte 🙂
    seine schilderungen zeugen von authentizität und kommen überzeugend rüber.
    so muss ich auch meine gewohnheiten, die bücher von vorne zu lesen, nicht ändern. die gemütliche beschreibung der leuchtturmwächterstube mit punsch etc. lädt bei nebligem wetter zum lesen ein, und ich muss dazu nicht auch noch arbeiten wie der zweite leuchtturmwächter von achnoe…
    schmunzelgrüsse zu dir.

  4. Quer sagt:

    So ist es, Merlin: Nach dem Berufsleben kann man sich die Zeit nach den eigenen Wünschen einteilen und auch das Lesen frei gestalten.
    Hab einen gemütlichen „Schmudeltag“ mit edler Lektüre und gemütlichem Ambiente!
    Lieben Gruss.

  5. Gerhard sagt:

    Tucholsky und sein Postschaffner: Mögen es viele Frühlingsstimmen geben, die das Buch kaufen und weiterempfehlen. Nur allein: Wo ist es zu finden?! 😉

    Liebe Grüsse
    Gerhard

  6. mona lisa sagt:

    Ich habe mich beim Lesen köstlich amüsiert.
    So kunterbunte Gedanken zum Lesen.
    Bin in einem Lesekreis, in dem ein Teilnehmer bisher mit kaum einem Schluss zufrieden war, seiner Meinung nach hätten sie stets anders sein müssen als sie waren. Wir warten schon immer auf seinen „Text“ …
    Schicke dir sonnengarnierte Schmunzelgrüße

    • Quer sagt:

      Ja, das mit dem jeweiligen Buchende ist so eine Sache.
      Auch bei einem Film steht und fällt der gute oder schlechte Gesamteindruck jeweils mit einem stimmigen oder verpatzten Schluss.
      Beim Lesekreisteilnehmer wäre ich auch gespannt auf seine Wahl. :–)
      Danke für die Sonnengarnitur.
      Hier garniert heute der Nebel.

  7. PepeB sagt:

    Papiermangel und Druckkosten – auch das noch heute Thema in den Verlagen.
    Allerdings könnte heute auf E-Books umgeschwenkt werden …
    Wie sähe der Schluss dann wohl aus?
    Liebe grüße
    Petra

  8. Quer sagt:

    Manche Probleme sind wohl früher wie heute im Buchwesen anzutreffen. Für mich sind E-Books leider keine Alternative.
    Aber über Recyklingpapier liesse sich reden. :–)
    Herzlichen Retourgruss zu dir.

  9. Sonja sagt:

    EBooks, iiiiiiiih und nie!
    Liebe Grüße von
    Sonja

  10. Quer sagt:

    Ganz meine Meinung. :–)
    Lieben Gruss zurück.

  11. Hausfrau Hanna sagt:

    Ich mag,
    liebe Frau Quer,
    den Leuchtturmwächter und Vielleser, der Bücher vermag, auch von hinten zu lesen 🙂
    Ein Text, der mich sehr anspricht, auch deshalb, weil neben meinem Bett die Bücher pfundweise übereinandergestapelt sind und aufs Lesen warten…
    Meine aktuelle Empfehlung: ‚Wenn es einen noch gibt‘, ein Familienporträt von Rose Lagercrantz.

    Einen herzlichen Gruss in den Abend
    Hausfrau Hanna

    • Quer sagt:

      Dass Sie eine Büchernärrin und Vielleserin sind, liebe Hausfrau Hanna, weiss ich inzwischen. Das erklärt dann auch die pfundweise gestapelten Bücher.
      Ich lese eigentlich immer weniger (meistens reut mich die Zeit dafür) und schmökere lieber da und dort etwas in den alten Veröffentlichungen, die ich dann auch problemlos im Blog verwenden darf. :–)

      Aber wer weiss, vielleicht packt mich auch irgendwann wieder das Leuchtturmwächter-Lesevirus…

      Geniessen Sie den Abend und seien Sie herzlich gegrüsst!

  12. Anna-Lena sagt:

    Köstlich, was so ein Leuchtturmwärter so alles denkt und tut.

    Aber deinen Satz: „Nach dem Berufsleben kann man sich die Zeit nach den eigenen Wünschen einteilen und auch das Lesen frei gestalten…“ kann ich so noch nicht bestätigen, obwohl mein Berufsleben 6 Jahre zurückliegt.

    Entweder:
    – ich habe immer zuviel vor
    – die Rentnertage sind extrem kurz
    – das Lesen wird altersbedingt langsamer …

    Meine Lesezeit ist verglichen mit meinen Wunschvorstellungen noch nicht ausreichend. Vielleicht sollte ich mal eine Auszeit auf einem Leuchtturm nehmen? 😉

    Amüsierte Grüße
    Anna-Lena

  13. Quer sagt:

    Na ja, liebe Anna Lena. Manchmal bestimmen die Umstände den Umgang mit der Zeit.
    Wenn ich momentan nicht wirklich viel Neues lese, liegt das bestimmt nicht am Zeitmangel, sondern an meinen anderweitigen Interessen wie Gestalten, Schreiben, Fotografieren, Flanieren, Diskutieren etc. :–)

    Einen lieben Abendgruss zu dir.

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