Archiv der Kategorie: Gedichte
Weit und breit
Foto Brigitte Fuchs: Teufenthal, am 11. Dezember 2022
Auch an diesen (teils sehr hellen)
Dezembertagen stehen wir
auf unseren Füssen. Nehmen
Mass an der Welt und wissen:
Es wird nicht genügen. Reden.
Ausreden. Manchmal etwas Feuer
unter der Haut. Und bald ein
neues Jahr. Das Neuste von allen.
Brigitte Fuchs
Aus „Handbuch des Fliegens“ Gedichte, edition 8, Zürich 2008
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Lied vor Tag
Was bewegt dich, stiller Himmel?
Was beschwingt die schweren Wolken?
Herz, wie kommt die helle Höhe
übers tiefgraue Meer?

Durch die Wolken schwebt ein Vogel,
schwebt vorbei mit hellen Flügeln,
trägt die goldne Morgenröte
übers tiefgraue Meer.

Komm zurück, du goldner Vogel!
Nimm mich hoch in deine Höhe!
Trag mein Herz, du helle Hoffnung,
übers tiefgraue Meer!
Richard Dehmel (1863-1920), Richard Fedor Leopold Dehmel, deutscher Dichter, Lyriker, Dramatiker und Kinderbuchautor

Alle Fotos Brigitte Fuchs
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Das Licht
Foto Brigitte Fuchs: Rütihof, neblige Sonne
Das Licht ist immer dünner geworden
ist bald
nur noch ein Widerschein
flatternd
wie ein zerrissener Traumschleier
vor dem übernächtigen Antlitz der Erde.
Henry Parland (1908-1930) finnland-schwedischer Dichter und Schriftsteller

Foto Brigitte Fuchs: Rütihof
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Ihnen/euch allen . . .

Foto Brigitte Fuchs
Es wird Zeit für die leiseren
Töne für den Schnee
und die Christrose
Es wird Zeit für die
Geduld der Engel
Und es wird Zeit für ein
neues Licht eines
das aufflammt
als Stern
Brigitte Fuchs
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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs
20
Großstadt – Weihnachten
Nun senkt sich wieder auf die heim’schen Fluren
die Weihenacht! die Weihenacht!
Was die Mamas bepackt nach Hause fuhren,
wir kriegens jetzo freundlich dargebracht.
Der Asphalt glitscht. Kann Emil das gebrauchen?
Die Braut kramt schämig in dem Portemonnaie.
Sie schenkt ihm, teils zum Schmuck und teils zum Rauchen,
den Aschenbecher aus Emalch glasé.
Das Christkind kommt! Wir jungen Leute lauschen
auf einen stillen heiligen Grammophon.
Das Christkind kommt und ist bereit zu tauschen
den Schlips, die Puppe und das Lexikohn,
Und sitzt der wackre Bürger bei den Seinen,
voll Karpfen, still im Stuhl, um halber zehn,
dann ist er mit sich selbst zufrieden und im reinen:
»Ach ja, son Christfest is doch ooch janz scheen!«
Und frohgelaunt spricht er vom ›Weihnachtswetter‹,
mag es nun regnen oder mag es schnein,
Jovial und schmauchend liest er seine Morgenblätter,
die trächtig sind von süßen Plauderein.
So trifft denn nur auf eitel Glück hienieden
in dieser Residenz Christkindleins Flug?
Mein Gott, sie mimen eben Weihnachtsfrieden . . .
»Wir spielen alle. Wer es weiß, ist klug.«
Kurt Tucholsky
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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs
16
Einkäufe
Was schenke ich dem kleinen Michel
zu diesem kalten Weihnachtsfest?
Den Kullerball? Den Sabberpichel?
Ein Gummikissen, das nicht näßt?
Ein kleines Seifensiederlicht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!
Wähl ich den Wiederaufbaukasten?
Schenk ich ihm noch mehr Schreibpapier?
Ein Ding mit schwarzweißroten Tasten;
ein patriotisches Klavier?
Ein objektives Kriegsgericht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!
Schenk ich den Nachttopf ihm auf Rollen?
Schenk ich ein Moratorium?
Ein Sparschwein, kugelig geschwollen?
Ein Puppenkrematorium?
Ein neues gescheites Reichsgericht?
Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!
Ach, liebe Basen, Onkels, Tanten –
Schenkt ihr ihm was. Ich find es kaum.
Ihr seid die Fixen und Gewandten,
hängt ihrs ihm untern Tannenbaum.
Doch schenkt ihm keine Reaktion!
Die hat er schon. Die hat er schon!
Kurt Tucholsky
Aus dem Jahre 1919
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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs
12
Wenn die Flocken fallen…
Grübelnd ging ich heut in meinen Laden.
Und ich dachte mir: Es kann nichts schaden –
Mach mal Inventur!
Oh, Matthias, wird das Leben aber teuer!
Jetzt kommt, Gott behüte, eine Umsatzsteuer –
Wer bezahlt die nur?
Und ich frag mich: Mitten in Berlin?
Kann der Mensch da Steuern hinterziehn?
Eben wars noch trocken.
Plötzlich schneit es dichte, dichte Flocken . . .
Und mir fällt beim Wandern eine nach der andern
leise auf den Hut.
Denk im Schneegeriesel:
Ich bin doch ein Stiesel –
weil die ganze Welt dergleichen tut!
(…)
Kurt Tucholsky
Erste von drei Strophen des gleichnamigen Gedichtes aus dem Jahre 1919

Foto Brigitte Fuchs
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Advent mit Tucholsky
Foto Brigitte Fuchs
8
Meditation, zum Coupéfenster hinaus
Wie die langen Telegrafenstangen
jene schwarzen, dünnen Drähte, die
grad sich zu erheben angefangen,
immer wieder niedergehen, wie
diese dunkeln regelmäßigen Stäbe,
die das Auf und Ab und Auf und Ab
stetig kontrollierend in der Schwebe
halten –:
also von der Wiege bis zum Grab
drückt auch dich, o Mensch, bei allem Streben
(seist du Amme, Kanzler, Redakteur),
drückt auch dich, o Mensch, im ganzen Leben,
nieder, nieder, nieder –
das Malheur.
Kurt Tucholsky
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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs
6
Weihnachten
Nikolaus der Gute
kommt mit einer Rute,
greift in seinen vollen Sack –
dir ein Päckchen – mir ein Pack.
Ruth Maria kriegt ein Buch
und ein Baumwolltaschentuch,
Noske einen Ehrensäbel
und ein Buch vom alten Bebel,
sozusagen zur Erheiterung,
zur Gelehrsamkeitserweiterung . . .
Marloh kriegt ein Kaiserbild
und nen blanken Ehrenschild.
Oberst Reinhard kriegt zum Hohn
die gesetzliche Pension . . .
Tante Lo, die, wie ihr wißt,
immer, immer müde ist,
kriegt von mir ein dickes Kissen. –
Und auch hinter die Kulissen
kommt der gute Weihnachtsmann:
Nimmt sich mancher Leute an,
schenkt da einen ganzen Sack
guten alten Kunstgeschmack.
Schenkt der Orska alle Rollen
Wedekinder, kesse Bollen –
(Hosenrollen mag sie nicht:
dabei sieht man nur Gesicht . . . ).
Der kriegt eine Bauerntruhe,
Fräulein Hippel neue Schuhe,
jener hält die liebste Hand –
Und das Land? Und das Land?
Bitt ich dich, so sehr ich kann:
Schenk ihm Ruhe –
lieber Weihnachtsmann!
Kurt Tucholsky
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Tiefer Blick
Foto Brigitte Fuchs
Und ob du jauchztest, ob dir Tränen tauten,
ein andres ist dir immer auch geschehn:
Ein Unsichtbares grüsst dich im Erschauten.
Du kannst es ahnen, aber nie verstehn.
Des Geistes Schwingen sind daran gebunden
und deines freisten Lieds Erlesenheit.
Denn alles, was dir Aug und Herz bekunden,
hat im Geheimnis seine Wesenheit.
Alfred Grünewald (1884-1942) österreichischer Schriftsteller
Aus „Lass meine Seele dir Heimat sein“

Foto Brigitte Fuchs
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