Archiv der Kategorie: Gedichte

Eingehüllt in graue Wolken

Fotos Brigitte Fuchs: alle vom selben Nachmittag (15.11.2023)

 

 

Eingehüllt in graue Wolken,
Schlafen jetzt die grossen Götter,
Und ich höre, wie sie schnarchen,
Und wir haben wildes Wetter.

Wildes Wetter! Sturmeswüten
Will das arme Schiff zerschellen –
Ach, wer zügelt diese Winde
Und die herrenlosen Wellen!

Kanns nicht hindern, dass es stürmet,
Dass da dröhnen Mast und Bretter,
Und ich hüll mich in den Mantel,
Um zu schlafen wie die Götter.

 

Heinrich Heine (1797-1856) deutscher Dichter und Romancier
Aus seinen nachgelassenen Gedichten

 

Foto Brigitte Fuchs: Ausflugsrestaurant Säli-Schlössli bei Olten (15.11.2013)

 

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Eine letzte Sommerbiene

Fotos Brigitte Fuchs

 

 

Eine letzte Sommerbiene
Fliegt mir durch das Grossstadtfenster
Spät am Abend. Die Gespenster
Längst Verstorbner stehn im Kreise.
Müde Biene summt ganz leise
Und die fernen Nachtgeräusche
Klingen wie das Echo alter
Dinge: Summe, Biene, bis ein kalter
Hauch erinnert, dass Gespenster
Und der Sommer tot sind. Vor dem Fenster
Müde Biene fällt ins Dunkel …

 

Guido Zernatto (1903-1943) österreichischer Schriftsteller, Lyriker und Politiker
geschrieben in New York 1942

 

Fotos Brigitte Fuchs

 

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Spaziergang

Foto Brigitte Fuchs: Aarburg/AG

 

 

(…)

Noch einmal bricht
Aus schweren Wolken
Die Sonne hervor mit stillem Leuchten,
Im Abendlicht
Aufblüht der See
Und Stämme und Gräser, die regenfeuchten.

Dein Antlitz glüht
In Jugendröte,
In Jugendglück wie in alten Tagen.
Mir ists, als müsste
Wie damals wieder
Ich heisse, tiefe Worte dir sagen.

(..)

 

Gustav Renner (1866-1945) deutscher Erzähler, Dramatiker und Lyriker
Zwei von fünf Strophen seines Gedichtes Spaziergang

 

Fotos Brigitte Fuchs

 

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Herbstfluss

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Der Strom trug das ins Wasser gestreute
Laub der Bäume fort. –
Ich dachte an alte Leute,
Die auswandern ohne ein Klagewort.

Die Blätter treiben und trudeln,
Gewendet von Winden und Strudeln
Gefügig, und sinken dann still. –

Wie jeder, der Grosses erlebte,
Als er an Grösserem bebte,
Schliesslich tief ausruhen will.

 

 

Joachim Ringelnatz (1883-1934) deutscher Dichter, Kabarettist und Seefahrer

 

Foto Brigitte Fuchs: alte Brücke über die Töss bei Rorbas/ZH

 

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Wald-Office

Foto Brigitte Fuchs

 

Mittag

Rings alles still – wohin man horcht und späht,
Im schatt’gen Walde, wie auf lichter Flur;
Nicht einmal eines einz’gen Vogels Laut,
Kein Blattgesäusel, keines Hauches Wehn,
Denn die Natur hält ihren Odem an.

(…)

Du aber, Mensch, befolge noch das Wort;
Sei still in wunderbarer Mittagszeit,
Daß du den Traum des Waldes nimmer störst
Durch wüsten Lärm, und laß die Arbeit ruhen
Und ruhe selbst und träume. Es ist süß,
Ganz aufzugehen in das große Schweigen
Und eins zu werden mit der Natur.

 

Hermann Allmers (1821-1902) deutscher Schriftsteller und Dichter
Erste und letzte Strophe seines vierstrophigen Gedichtes „Mittag“

 

Foto Brigitte Fuchs

 

P.S. Dieses Gedicht könnte sehr gut auch von Goethes Versen (im gestrigen Beitrag besprochen) inspiriert worden sein: Die Ruh, der fehlende Hauch, die verstummten Vögel, das Schwigen im Walde, – alles erinnert an das kleine, feine Goethegedicht, kommt aber, wie ich finde, nicht an das grosse Vorbild heran.

B. Fuchs

 

 

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Über allen Gipfeln…

Foto Brigitte Fuchs: Am gestrigen Föhntag von Aarburg aus aufgenommen

 

Ueber allen Gipfeln
Ist Ruh‘,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest du auch.

Johann Wolfgang von Goethe

 

Foto Brigitte Fuchs

 

Zur Geschichte dieses kleinen, weltberühmten Poems:

Zwei Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe tragen den Namen „Wanderers Nachtlied“: Der du von dem Himmel bist (aus dem Jahre 1776) und Über allen Gipfeln ist Ruh (von 1780).
Das erste richtete er in einem Brief an Frau von Stein.
Letzteres, das er im Band I seiner Werke unter das ältere stellte, betitelte er mit Ein Gleiches, was wohl bedeuten sollte, dass es ebenfalls mit diesem Titel zu lesen sei. Berichten zufolge entstand es am 6. September 1780 auf dem Berg Kickelhahn bei Ilmenau (Thüringen). Er soll es mit Bleistift an die hölzerne Innenwand einer Jagdhütte geschrieben haben. (Es wurde oft analysiert, vertont, parodiert und in viele Sprachen übersetzt.)

Im August 1831 (ein halbes Jahr vor seinem Tod), habe der Dichter die Blockhütte ein letztes Mal, zusammen mit einem Begleiter, besucht. Er habe beim Lesen Tränen in den Augen gehabt und gesagt: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch.“

Die damalige Jagdhütte existiert nicht mehr, weil sie 1870 völlig niederbrannte. Allerdings wurde das so genannte „Goethehäuschen“ ein paar Jahre später von Restauratoren originalgetreu wieder aufgebaut und hergerichtet.

 

Foto Brigitte Fuchs

 

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Bodensee

Foto Brigitte Fuchs: Föhntag in Rorschach/SG am Bodensee, 29.10.2023

 

 

Die Dörfer sind wie ein Garten.
In Türmen von seltsamen Arten
klingen die Glocken wie weh.
Uferschlösser warten
und schauen durch schwarze Scharten
müd auf den Mittagsee.

Und schnellende Wellchen spielen,
und goldene Dampfer kielen
leise den lichten Lauf;
und hinter den Uferzielen
tauchen die vielen, vielen
Silberberge auf.

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926) österreichischer Lyriker deutscher und französischer Sprache

 

Foto Brigitte Fuchs: Bodensee bei Rorschach, früheres Datum

 

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Allerseelen

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Stell auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag herbei,
Und lass uns wieder von der Liebe reden,
Wie einst im Mai.

Gib mir die Hand, dass ich sie heimlich drücke
Und wenn mans sieht, mir ist es einerlei,
Gib mir nur einen deiner süssen Blicke,
Wie einst im Mai.

Es blüht und duftet heut auf jedem Grabe,
Ein Tag im Jahr ist ja den Toten frei,
Komm an mein Herz, dass ich dich wieder habe,
Wie einst im Mai.

 

Hermann von Gilm (1812-1864) eigentlich Hermann Gilm von Rosenegg, österreichischer Jurist und Dichter

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Allerheiligen

Fotos Brigitte Fuchs: Friedhof in Bad Säckingen/D und (im Header) Widnau/SG mit einer Skulptur des Bildhauers Albert Wider (1910-1985)

 

 

Man könnte sich einstimmen auf

dieses Schweigen man könnte Mittel

und Wege zu Worthaufen rechen

zurückblicken auf endlos fortlaufende

Jahre mit Wimpern zucken zwinkern

freundlich das Weite suchen in

einem dieser redseligen Gärten

 

 

Brigitte Fuchs

Gedicht mit dem Titel „Lidschläge“
aus „Musik von weit her“, Gedichte, edition 8, Zürich 2020

 

 

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Jetzt ist es Herbst

Fotos Brigitte Fuchs

 

Jetzt ist es Herbst,
Die Welt ward weit,
Die Berge öffnen ihre Arme
Und reichen dir Unendlichkeit.

Kein Wunsch, kein Wuchs ist mehr im Laub,
Die Bäume sehen in den Staub,
Sie lauschen auf den Schritt der Zeit.
Jetzt ist es Herbst, das Herz ward weit.

Das Herz, das viel gewandert ist,
Das sich verjüngt mit Lust und List,
Das Herz muss gleich den Bäumen lauschen
Und Blicke mit dem Staube tauschen.
Es hat geküsst, ahnt seine Frist,
Das Laub fällt hin, das Herz vergisst.

 

Max Dauthendey (1867-1918) deutscher Dichter und Maler

 

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