Archiv der Kategorie: Gedichte

Das Mass der Dinge

Fotos Brigitte Fuchs: Burgunderblutalgen auf dem Baldeggersee

 

 

Alles ist, wenn du liebst!
Dein Freund wird Sokrates, wenn du’s ihm gibst.
Herz, Herz, wie bist du schöpferisch!
Du schwebst! Die Erde wird himmlisch.
Einst kamst du, ein Kind, zu grünem Waldweiher.
Sahst schaudernd den geheimnisvollen Algen-Schleier.
Du streicheltest der Weidenkatzen tierisch-süssen Samt –
Wie tiefsinns-selig bebte deine Knabenhand!
In deinem Aufschwung, Mensch, wird alles gross!
In deinem Abschwung alles hoffnungslos!
Und nur die Seele, die sich liebend selbst vergass,
Ist aller Dinge Mass und Übermass.

 

 

Franz Werfel (1890-1945) österreichisch-US-amerikanischer Schriftsteller und Lyriker jüdischer Herkunft; er emigrierte 1938 nach Frankreich und 1940 in die USA.

 

 

Zu den Algenbildern:

Die Burgunderblutalge ist schön, aber nicht ungefährlich. Der aus dem Griechischen abgeleitete Name „Planktothrix rubescens“ bedeutet frei übersetzt „im Wasser umherirrendes rötliches Haar“. Im Schweizer Murtensee kommt es immer wieder zu Blüten der Spezies, die das Wasser rötlich färben. Dies deutete man früher als das Blut der in der „Schlacht bei Murten“ erschlagenen Burgunder und so etablierte sich die deutsche Bezeichnung Burgunderblutalge. Gebräuchlich ist auch der Ausdruck „Blaualge“. Blaualgen sind nicht ganz ungefährlich:

Einige Arten produzieren nämlich Stoffe, die bei Badenden Durchfall, Erbrechen oder Hautausschläge und im schlimmsten Fall sogar Atemnot auslösen können. Eine Gesundheitsgefahr besteht vor allem durch das Schlucken des Wassers – das gilt auch für Hunde.

 

Foto Brigitte Fuchs

 

 

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Also, ihr Herrscher der Erde

Foto Brigitte Fuchs: Teil einer Installation mit dem Titel „Milenium Beton“ von Valentin Schuler geschaffen für die Gemeinde Gunzwil (seit 2009 Zusammenschluss mit Beromünster)

 

Soll wieder unsre Welt im Blute schwimmen,
Weil euer Herrscherstolz gebeut
Und euer Donnerruf die Stimmen
Der Friedenssöhne überschreit?
Ach, schrecklich ist’s, der Menschen Mark vergeuden
Und mit der Würgehand
Umwühlen in der Menschen Eingeweiden,
Vom Schlachtendurst entbrannt!
Steckt eure Schwerter in die Scheide,
Lasst eure Donnerschlünde ruhn!
Gibt’s grössern Ruhm, gibt’s reinre Freude,
als Friede geben, Gutes tun?

 

Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791) deutscher Dichter, Organist, Komponist und Journalist

 

Foto Brigitte Fuchs: Installation von Valentin Schuler zur Jahrhundertwende

 

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’s ist Krieg

Foto Brigitte Fuchs

 

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
’s ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!

 

(…)

Matthias Claudius (1740-1815), deutscher Dichter, Redakteur und Erzähler
Erste Strophe seines Gedichtes „Kriegslied“

 

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Einfalt

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Also schreib ich hellgrün
übers trostlose Schwarz
und denke mir
bei Licht besehen
könnte man es lesen
und denke mir
es müsste leuchten
nachts

 

 

Brigitte Fuchs
Aus „Herzschlagzeilen“ Gedichte, Glendyn Verlag, Aarau 1989

 

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Sing Vogel

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Warum steckt so viel Trotz in ihm
lässt er Federn pflückt er Flaum

wieso weigert er sich auf beiden
Beinen zu stehen übers Wasser zu

gehen weshalb müht er sich nicht
den Kopf zu heben mit aller Kraft

hinauf zu steigen da oben weit
oben zu singen wie es uns gefällt

 

 

Brigitte Fuchs
Aus „Es tanzt der Stein“, Gedichte, edition 8, Zürich 2014

 

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Grosser Vogel

Foto Brigitte Fuchs: Kleiber

 

 

Die Nachtigall ward eingefangen,
Sang nimmer zwischen Käfigstangen.
Man drohte, kitzelte und lockte.
Gall sang nicht. Bis man die Verstockte
Im tiefsten Keller ohne Licht
Einsperrte. – Unbelauscht, allein
Dort, ohne Angst vor Widerhall,
Sang sie
Nicht – –,
Starb ganz klein
Als Nachtigall.

 

 

Joachim Ringelnatz (1883-1934) deutscher Dichter, Kabarettist und Seefahrer
Das Gedicht „Grosser Vogel“ stammt aus dem Jahre 1933
Aus „Und auf eimal steht es neben dir“, Gesammelte Gedichte, Copyright by Karl H. Henssel  Verlag Berlin 1950

 

Foto Brigitte Fuchs: Kleiber

 

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Unser Storch

 

Habt ihr ihn noch nicht vernommen?
Auf dem Dache sitzt er schon.
Unser Storch ist heimgekommen,
Hört doch! Hört den frohen Ton!
Klappre du, klappre du klapp klapp klapp!
Klapp klapp klapp!
Klappre du, klappre du immerzu!

 

 

Ja, du bist nun eingetroffen
Nach so langer Winternacht,
Hast erfüllet unser Hoffen
Und den Frühling mitgebracht.
Klappre du, klappre du klapp klapp klapp!
Klapp klapp klapp!
Klappre du, klappre du immerzu!

 

 

Ach, wie tönt in unsre Ohren
Doch so süss der frohe Ton:
Ja, wir sind wie neugeboren,
Denn der Winter ist entfloh’n.
Klappre du, klappre du klapp klapp klapp!
Klapp klapp klapp!
Klappre du, klappre du immerzu!

 

 

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) deutscher Dichter, Sprachforscher und Liederautor

 

Alle Fotos Brigitte Fuchs: Storchenkolonie im Murimoos, Kanton Aargau

 

 

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Sternrisse

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Sternrisse

 

Tonlos diese Spur und monoton der

Morgen nichts Erkennbares weitab weht

Weinerlichkeit über die Milchstrasse

 

Alles altert unzeitgemäss nichts wärmt

nichts hält uns die Stange jede Gabe

ist mild und minderwertig zugleich

 

 

 

Brigitte Fuchs
Aus „Musik von weit her“ Gedichte, edition 8, Zürich 2020

 

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Fragment

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Zu meiner Zeit auf dieser Erde,
da war der Mensch so tief gesunken, dass er
mutwillig tötete, nicht nur befohlen,
und, während er im Wahn wild geiferte, ein Zwang
im Hirn sein Leben wild ins Garn des Irrsinns schlang.

(…)

19. Mai 1944

 

Miklós Radnóti (1909-1944) jüdischer ungarischer Dichter
Erste Strophe seines Gedichtes „Fragment“, das er kurz vor seinem gewaltsamen Tod schrieb.
Aus „Gewaltmarsch“ ausgewählte Gedichte, Corvina Verlag, Budapest 1979

 

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Entsetzen

Foto Brigitte Fuchs

 

 

Durch die Strassen der Städte,
Vom Jammer gefolget,
Schreitet das Unglück –
Lauernd umschleicht es
Die Häuser der Menschen,
Heute an dieser
Pforte pocht es,
Morgen an jener,
Aber noch keinen hat es verschont.
Die unerwünschte
Schmerzliche Botschaft,
Früher oder später,
Bestellt es an jeder
Schwelle, wo ein Lebendiger wohnt.

(…)

 

 

Friedrich von Schiller (1759-1805) deutscher Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker; gilt als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker und Lyriker

Quelle: „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“. Ein Trauerspiel mit Chören, 1803; 4. Akt, Beginn des 4. Auftritts

 

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