Archiv der Kategorie: Texte
Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs
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(…)
Eine Geschichte? Dies ist eine schöne Geschichte.
Ein amerikanischer Milliardär – meine Geschichten spielen alle in vornehmer Gesellschaft – ein amerikanischer Milliardär wurde einst von einem Freunde gefragt: »Wie machen Sie das, Herr Moneymaker: auf jedem Ihrer Empfänge werden Ihnen Hunderte von Leuten vorgestellt, Menschen, die Sie nie vorher gesehn haben. Alle aber unterhalten sich mit Ihnen auf das trefflichste. Wie machen Sie das nur?« – »Ich habe mir da eine Methode ausgedacht«, sagte der Milliardär. »Ich frage jeden Menschen, der mir vorgestellt wird: Was macht Ihr Leiden –?«
Kurt Tucholsky
„Schnipsel“ aus dem Jahre 1932
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Advent mit Tucholsky
Foto Brigitte Fuchs
7
Die Träume
(…)
Keine Sorge, Leser, er findet ihn noch nicht. Er findet ihn wahrscheinlich erst abends, wenn er wieder den Fahrstuhl benutzen muß, um in die Werkstatt zu gelangen. Denn in eben diesem Elevator liegt Fritze Bumke – den Geräuschen in seinem Innern lauschend und selig lächelnd. Vor die Tür hat er seine Stiefel gestellt, wie sich das für einen ordentlichen Mann gehört. Seine rechte Hand tastet in der Luft streichelnd eine kugelige Rundung ab . . . Still – er spricht! –
»Blau wien Ritter!« spricht er. »Aber wat mir heute nacht jeträumt hat – vaflucht juchhe –! Ein paar janz dolle Nummern warn det – – Und ein Weib –! Junge . . . Junge . . . ! Ein Weib, sage ick dir – prost!« –
Kurt Tucholsky
Letzte Zeilen der Erzählung „Die Träume“ aus „Träumereien an preussischen Kaminen“

Foto Brigitte Fuchs: Skulptur „Reclining Woman“ von Fernando Botero in Vaduz/Liechtenstein
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Advent mit Tucholsky

Foto Brigitte Fuchs: Pan
Detail auf einem Wandfries „Bacchanalia“ des Jugendstilbildhauers A Meyer im Jahre 1900 am Seefeldquai in Zürich
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Märchen
Es war einmal ein Kaiser, der über ein unermeßlich großes, reiches und schönes Land herrschte. Und er besaß wie jeder andere Kaiser auch eine Schatzkammer, in der inmitten all der glänzenden und glitzernden Juwelen auch eine Flöte lag. Das war aber ein merkwürdiges Instrument. Wenn man nämlich durch eins der vier Löcher in die Flöte hineinsah – oh! was gab es da alles zu sehen! Da war eine Landschaft darin, klein, aber voll Leben: Eine Thomasche Landschaft mit Böcklinschen Wolken und Leistikowschen Seen. Rezniceksche Dämchen rümpften die Nasen über Zillesche Gestalten, und eine Bauerndirne Meuniers trug einen Arm voll Blumen Orliks – kurz, die ganze moderne Richtung war in der Flöte.
Und was machte der Kaiser damit? Er pfiff drauf.
Kurt Tucholsky
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Advent mit Tucholsky
Foto Brigitte Fuchs
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Vom Mann, der keine Zeitungen mehr las
(…)
Grillruhm bestellte seine Zeitungen ab.
Von da an wurde es stille und ruhig um A. G. Er hörte wohl noch ab und zu, daß jetzt wieder ein schreckliches Eisenbahnunglück in Jütland sich zugetragen habe, und daß in Cincinnati die reiche Frau des Mister E. H. Crocker sich scheiden lassen wolle, weil man ihr nicht die dreihundert Hüte jährlich bewilligte, die sie nötig zu haben meinte, um überhaupt atmen zu können. Auch erzählte ihm vielleicht einer seiner Bekannten, der noch ein Zeitungsabonnement und einen weiteren Gesichtskreis hatte, etwas von den Kongressen, auf denen alljährlich mit zwei Drittel Majorität beschlossen wird, daß der Mensch von nun ab keine unsterbliche Seele mehr aufzuweisen habe . . . In diesen Beziehungen war Grillruhm auf seine fleißig lesenden Bekannten angewiesen.

Foto Brigitte Fuchs
Aber dafür hatte der Grillruhm einen riesigen Vorteil.
Morgens, wenn die Sonne so recht butterweich ins Fenster schien, war es nun still um ihn. Sehr ruhig, ganz ruhig. Früher hatte es gebrüllt: 400 Verletzte! Neu-Einstudierung von Wielands ›Oberon‹!! Zu der Frage über die elektrischen Bahnen unserer Stadt wird uns noch geschrieben . . .
Jetzt nichts mehr von alledem. Grillruhm sah zum Fenster heraus, betrachtete die Vögel auf der stillen Straße, beobachtete, wie die Morgensonne in hellgrünen Baumblättchen glitzerte, und ließ sich den frischen Morgenwind um die Nase wehen. Die Stadt erwachte, der Himmel war zart pastellblau, die Luft frisch. Der Grillruhm freute sich dessen, und viele gute Gedanken kamen ihm nun, da er erlöst war.
Kurz: ein ruhiger Morgen.
(…)
Kurt Tucholsky
Ausschnitt aus „Vom Manne, der keine Zeitungen mehr las“ aus dem Jahre 1914

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Advent mit Tucholsky
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2
Das Grammophon
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist,
Gebt volles Maß! –
(…)
Wenn es aber ganz spät geworden ist, dann hole ich meine Privatplatte heraus. Sie ist doppelseitig bespielt: auf der einen Seite trägt sie einen nun schon leicht angejahrten Modewalzer. Er hat den Gegentakt, ist sehr schwer zu tanzen und wird von einem kleinen Orchesterchen gespielt, mit feiner diskreter Besetzung. Das ist meist so gegen zwölf Uhr, der Rauch beißt in die Augen. – Es ist alles so leicht und angenehm und mühelos, wie wenn man in einem schönen weißen Dampfer flußab fährt. Und die Kapelle spielt, nur für mich allein, in memoriam.
Kurt Tucholsky
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Advent mit Tucholsky
Foto Brigitte Fuchs
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Gefühle nach dem Kalender
(…)
Nach dem Kalender . . . ?
Nicht nach dem Kalender. Ihr tragt alle den Kalender in euch. Es ist ja nicht das Datum oder die bewußte Empfindung, heute müsse man nun . . . Es ist, wenn ihr überhaupt wißt, was ein Festtag ist, was Weihnachten ist: euer Herz.
Laßt uns einmal von dem Festtags-„Rummel“ absehen, der in einer großen Stadt unvermeidlich ist. Laßt uns einmal daran denken, wie Weihnachten gefeiert werden kann, unter wenigen Menschen, die sich verstehen. Das ist kein Ansichtskarten-Weihnachten. Das ist nicht das Weihnachten des vierundzwanzigsten Dezembers allein – es ist das Weihnachten der Seele. Gibt es das –?
Es soll es geben. Und gibt es auch, wenn ihr nur wollt. Grüßt, ihr Herren, die Damen, küßt ihnen leise die Hand (bitte in meinem Auftrag) und sagt ihnen, man könne sogar seine Gefühle nach dem Kalender regeln: zum Geburtstag, zum Gedenktag – und zu Weihnachten.
Aber man muß welche haben.
Kurt Tucholsky
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Schätze
Foto Brigitte Fuchs
Das menschliche Herz ist voller Schätze,
geheim und in Stille versiegelt;
Gedanken, Hoffnungen, Träume und Freuden,
deren Reize endeten, wenn man sie offenbarte.
Emily Brontë (1818-1848) britische Schriftstellerin
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Was eine Hofdame glücklich macht
Foto Brigitte Fuchs: Blick in ein Schaufenster
Was glücklich macht
(…)
Ich habe einen schrecklichen Traum geträumt und frage mich bestürzt, was für ein Unglück nun hereinbrechen werde. Aber der Wahrsager erklärt mir, dass dieser Traum nichts zu bedeuten habe. Ich bin entzückt!
(…)
Ich freue mich besonders, wenn ich einen hochmütigen Menschen kurz abfertigen kann. Meine Freude ist riesengross, wenn es sich dabei um einen Mann handelt.
(…)
Ich bin glücklich, wenn ein Zierkamm, den ich extra machen liess, über Erwarten gut gelungen ist.
Besonders glücklich bin ich aber, wenn einer glücklich ist, den ich liebe.
(…)
Aus „Das Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shonagon“; sie war Hofdame am japanischen Kaiserhof zur Zeit der späteren Heian-Zeit (898-1186)

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Anagramm-Zweizeiler 563: Brautstrausswerfen
Bei einer Hochzeit existiert zu Ende der Feier der Brauch des Brautstrausswerfens. Es versammeln sich alle unverheirateten Frauen hinter der Braut. Diese wirft den Brautstrauss blind in die Menge. Wer den Strauss fängt, soll nach den Gesetzen dieses Brauchs die nächte Braut werden.
Foto Brigitte Fuchs
WER IST DIE NAECHSTE?
ETWA NEIDISCH, ESTER?

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Schneeweisschen und Rosenrot

Fotos Brigitte Fuchs
Eine arme Witwe, die lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rote Rosen; und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenrot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind: Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommervögel; Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, daß sie sich immer an den Händen faßten, sooft sie zusammen ausgingen; und wenn Schneeweißchen sagte: „Wir wollen uns nicht verlassen,“ so antwortete Rosenrot: „Solange wir leben, nicht,“ und die Mutter setzte hinzu: „Was das eine hat, soll’s mit dem andern teilen.“
(…)
Der Anfang des Märchens „Schneeweisschen und Rosenrot“ der Gebrüder Grimm

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